Still, mein Herz, ein Weilchen, daß ich dieses Rätsel mir erklär´!
Autor/in: Sabrina Zehetner (DWP)
Der berühmte Autor wird weiterhin von Psychoanalytikern aller Facetten umworben. Die Prinzessin, Marie Bonaparte, hat ihrerseits eine 700-Seiten lange Psychobiographie über den Autor mit „pathologischen Tendenzen“ (Freud) geschrieben,
Edgar Poe, étude psychoanalytique (1933).
Tatsächlich war Poe nicht der mental gesündeste Zeitgenosse, aber auch Bonaparte war dies nicht und sie hatten biografisch vieles gemeinsam. Bonapartes Buch beinhaltet zwei Bände – Buch I beschäftigt sich mit dem Leben und den Gedichten des Autors, während Buch II sich stark auf die sogenannten „Mutterzyklen“ konzentriert. Buch III widmet sich ganz den Vaterfiguren in seinen Geschichten und Buch IV analysiert die Gemeinsamkeiten zwischen Poe und Baudelaire. Freud lobt Bonapartes Genie im Vorwort des Buches:
Durch die psychoanalytische Deutung versteht man erst, in welchem Maße der Charakter eines Werkes von der Eigenart seines Schöpfers abhängt und wie diese wiederum geformt wird durch den Niederschlag starker Gefühlsbindungen und schmerzlicher Erfahrungen in der frühen Jugend. Solche Untersuchungen sollen nicht das Genie des Dichters erklären, aber sie zeigen, welche Motive es geweckt haben und welcher Stoff ihm vom Schicksal aufgetragen wurde. Es hat seinen besonderen Reiz, die Gesetze des menschlichen Seelenlebens an hervorragenden Individuen zu studieren.Poes Schwerpunkt auf Symbolismus, verborgene Motive, obsessives Verhalten und sich verändernde Realitätszustände erwiesen sich als fruchtbar für die psychoanalytische Untersuchung. In den 1920ern konzentrierten sich unzählige psychoanalytische Studien auf übernatürliche Themen und literarische Horrorelemente. Edgar Allan Poes Leben war voll von Tragik und selbstzerstörerischen Tendenzen. Seine Mutter starb an Lungentuberkulose und nachdem sein Vater die Familie verlassen hatte, wurde er mit zwei Jahren zur Waise. Sein Pflegevater, John Allen, vernachlässigte ihn, was dazu führte, dass Poe Spielsucht entwickelte, von der er nie geheilt wurde und schließlich gezwungen war dem Militär beizutreten, um über die Runden zu kommen.
Auch Frances Allen, seine Pflegemutter, starb, was ihn ohne Mutterfigur in seinem Leben zurückließ. Er erholte sich nie von dem Tod seiner ersten Frau Virginia Clemm und hatte mit Depressionen und Alkoholismus zu kämpfen. Zu allem Übel lebte er, trotz seines erfolgreichen Gedichts „
The Raven“, sein ganzes Leben lang am Rande der Armut. Warum fühlte sich Bonaparte so angezogen von diesem tragischen, literarischen Genie?
Den ersten Kontakt mit Poes Werk hatte Marie Bonaparte als ihr Vater ihr eine Übersetzung von Charles Baudelaire schenkte. Charles Baudelaire war selbst davor bereits Gegenstand psychoanalytischer Beobachtung gewesen. Die Lieblingsbücher ihres Vater hinterließen keinen bleibenden Eindruck bei Marie Bonaparte, mit Ausnahme von Ligeia:
"I was so horrified by the description of the living and vengeful corpse of the woman that I was unable, I think, to finish the story. I soon abandoned the terrifying book". Marie-Felix Blanc, Marie Bonapartes Mutter, litt während ihrer Schwangerschaft unter Tuberkulose und starb einen Monat nach der Geburt ihrer Tochter an einer Embolie. Ihre Tutoren, Ammen und Gouvernanten scheiterten daran die Lücke, die ihre Mutter hinterlassen hatte, zu füllen und sie wurde in einem restriktiven Umfeld erzogen. Sie durfte nicht nach draußen, wenn es zu kalt war, zu schnell rennen oder mit anderen Kindern spielen. Die internalisierte Angst vor Tod und Krankheit verfolgte sie bereits in jungen Jahren und führte dazu, dass sie verschiedenste Phobien entwickelte. Sie hatte Angst vor Knöpfen, dem ägyptischen Gott Anubis und Medizin und davor vergiftet zu werden.
Zunächst scheute sich Bonaparte auf Grund dieser Erfahrungen vor dem Autor, die Ähnlichkeiten jedoch waren Teil der Faszination:
“...for twenty-five years of my life I didn´t open a book where there might have been a story of a haunting - especially if the spirits were female (...) Because the female dead, as I realized early on, scared me a hundred times more than male ones. It was the dead women who haunt the stories of Poe that kept me away from his work”. In seiner Theorie über Poesie erklärte Poe, dass das idealste Thema "
the death . . . of a beautiful woman" sei. Die tote, lebende Mutter repräsentierte eine Quelle der Kreativität, welche die unheimlichen und oft morbiden Themen wie Tod und Leben, Realität und Fantasie und Horror und Schönheit inspirierten. Sie las Ligeia ein weiteres Mal während ihrer Psychoanalyse mit Freud und realisierte, dass der frühe Tod ihrer Mutter einen tiefgreifenden Einfluss auf ihre Persönlichkeit und der Entwicklung von Kindheitsängsten hatte. Für sie war Ligeia
“the vengeful mother who reappeared before the father to take the place usurped by Rowena=me; suddenly she lost all her terrifying power along with her mystery. This was one of the most wonderful therapeutic results of my analysis".
Bonaparte stellt fest, dass "even in his life Edgar Poe was like the heroes of his stories: fixated on the moribund mother of his childhood, exhausting himself with his efforts to escape from her". Jedes Ereignis und jeder Charakter in Poes Werk sind repräsentativ für seine Familie oder ihn selbst. Auf den Spuren Freuds interpretierte Bonaparte die mütterliche Figur und weiblichen Charaktere - wie Berenice, Morella, Madeleine, Eleonora or Ligeia - in Poes Literatur und seine Biografie als Ausdruck des Unbewussten und seiner Sexualität. Paradoxerweise enthüllte sie mit ihrer Analyse über Poe mehr über sich selbst als sie vielleicht beabsichtigt hatte. Die Projektion und Übertragung ihrer eigenen Geschichte und die des Autors halfen ihr dabei den Ursprung der Traurigkeit in ihrem Leben besser zu verstehen.