Familiengeheimnisse
Autor/in: Silvia Prosquill (DWP)
Etymologisch betrachtet kommt der Begriff „Familie“ ursprünglich aus dem Lateinischen und bezeichnet im übertragenen Sinn eine Hausgemeinschaft, die durch Heirat oder Herkunft definiert ist. In den heutigen Hausgemeinschaften leben meist nur zwei Generationen zusammen.
Dem Zeitgeist entsprechend kommt es jedoch zu einem Wandel der klassischen Kleinfamilie des 20. Jahrhunderts „Vater-Mutter-Kind(er)“. Der Anstieg von Scheidungen bringt sowohl Familien mit alleinerziehenden Elternteilen als auch Wiederverheiratungen mit sich. Das Patchwork-Modell verweist auf die Vielgestaltigkeit der Beziehungskonstellationen innerhalb von zwei Generationen. Blicken wir ein oder zwei Generationen zurück, so lebten in diesen Hausgemeinschaften meist noch mehrere Generationen unter einem Dach. Mit dem Begriff der „institutionellen Familie“ wird nach Buchholz (1995) das tradierte Bild der generationsübergreifenden Familie transportiert. Sie stellt die kleinste staatliche Einheit dar und war über Jahrhunderte ein Garant für Sicherheit für Frauen und Kinder. In der „ideologischen Familie“ bilden ideologisches Gedankengut und gemeinsame Normen den organisierenden Kern des Familienverständnisses. Die Familie definiert sich hierbei über jene gemeinsame Ideologie-Verbundenheit in verschiedenen Bereichen wie Politik, Religion, Rasse, z.B. auch das Heer oder eine therapeutische Schule findet sich in diesem Familienbegriff. Der „unbewussten Familie“ wird über mehrere Generationen ein unbewusster Einfluss auf die Familiendynamik zugemessen und mitbedacht.
In jeder dieser Gruppierung befinden sich die besten Voraussetzungen dafür, Verbotenes in isolierter Umgebung stattfinden zu lassen. Dieser Rahmen, der zum großen Teil durch primär bekundete Loyalität zum Schweigen verpflichtet, wird somit zum Nährboden für Geheimnisse. Eines der wichtigsten Merkmale dieser Systeme ist die Abgeschlossenheit nach außen. So besteht zumeist ein Verbot, außerhalb dieser „Familien“ über das Private zu sprechen. In dieser abgekapselten Atmosphäre gedeiht Heimliches und Unheimliches. Für diese Abgrenzung nach außen braucht es eine spezifische Bindung der Mitglieder. Ivan Boszormenyi-Nagy und Geraldine Spark (2006) verweisen auf Loyalität als positive Einstellung von Treue, die von einer Person gegenüber einem „Loyalitätsobjekt“ erwartet wird:
„Das Loyalitätsprinzip ist eine grundlegende Voraussetzung für das Verständnis der Moral, das heißt der tieferliegenden Beziehungsstruktur von Familien und anderen sozialen Gruppen“.
Dem gegenüber setzten die Autoren das Konzept des „Mehrpersonen-Loyalitätsgewebes“. Dieses ist von einer strukturierten Gruppenerwartung geprägt und alle Mitglieder sind zu deren Einhaltung aufgefordert. Hier wird Loyalität als Gruppenmerkmal verstanden und die Bedürfnisse des einzelnen werden jenen der Gruppe untergeordnet. Es wird vorausgesetzt, dass der Mensch, um ein loyaler Teil einer Gruppe zu sein, die Werte und Regeln dieser Gruppe verinnerlicht hat und durch eine gruppenspezifische Haltung seine Verbundenheit vermittelt. Hier stellt Freud einen Vergleich zur dynamischen Basis von Gruppen an, in der er eine Mission des Überichs erkennt. Die wichtigsten Gruppen, die sich dem Loyalitätsprinzip verschreiben, sind die Religionen, die Familien, das Heer und die politischen Parteien.
Ein Geheimnis stellt immer eine sensible Information dar, die meist nur einer kleinen Gruppe bekannt ist. Jedoch das Unbewusste verspürt Veränderungen, atmosphärische Schwankungen, Stimmungen, die im Beziehungsgefüge auch jene Personen, die das Geheimnis nicht kennen, berühren und Unheimliches ahnen lassen. Zum Begriff Geheimnis lässt sich spontan assoziieren: „Verborgen, versteckt, schutzwürdig, Angst vor Entdeckung, Scham und Schuld“. Der Autor John Bradshow (1999) erläutert, dass Geheimnisse einerseits ein selbstverständlicher Bestandteil unseres Lebens sind. Er unterscheidet jedoch zwischen „gesunden Geheimnissen“ und „dunklen Geheimnissen“. Für die erste Kategorie beschreibt er in Bezug auf die Familie, dass sie sowohl persönliches Wachstum und Individualität als auch die Familie als Verbund stärken und schützen können. Die zweite Art von Geheimnissen wirkt jedoch destruktiv und zerstört Vertrauen, Intimität und Persönlichkeitsentwicklung.
In der Zeit Freuds war das Kollektiv als schützende Instanz propagiert und die Gefühlswelt des Individuums unterdrückt. Dementsprechend war es selbstverständlich, sich dem kollektiven Denken der Familie und der ihr opportun erscheinenden gesellschaftlichen Gruppierung anzuschließen, es wurde als tugendhaft betrachtet, die eigenen Interessen dem Gruppenanliegen zu opfern. Eine Verweigerung dieser Prinzipien brachte die Gefahr einer Ausgrenzung aus der Familie mit sich. Trotz seinen gesellschaftskritischen und für jene Zeit konfrontativen Theorien scheint sich Freud auch Konventionen zu fügen, wenn er seiner Tochter Anna das Medizinstudium untersagte, die sich dieser Vorgabe fügte. Erst als Anna die psychoanalytische Ausbildung ins Auge fasste, gab er seine Zustimmung – über Briefwechsel nachvollziehbar mit Wohlwollen und vermutlich mit dem Stolz eines Vaters, der weiß, dass sein Gedankengut in seinem Sinne weitergetragen wird. Hier lässt sich ein Aspekt des Geheimnisses annehmen: Durch die von Freud selbst durchgeführte Psychoanalyse bei seiner Tochter, lässt sich eine besondere Verbundenheit annehmen, die vermutlich auch die Weitergabe von Geheimnissen um die psychoanalytische Ausbildung, Träume und Phantasien miteinschloss. Mit Bradshaw lässt sich dies als ein das Selbstwertgefühl stärkendes Geheimnis verstehen - diese lösen beim Geheimnisinhaber den Affekt des Stolzes aus, das Wissen stellt sich als narzisstische Erhöhung dar und führt zu einem enormen Gewinn des Selbstwertes. Der Stolz kann sowohl mit seiner exhibitionistischen Seite auftreten als auch als stiller Gast.
Als Gegenspieler des Stolzes erscheint das Schamgefühl. Dieses kann nun auf der einen Seite durch den Ausschluss entstehen – der Zugehörigkeit zum ‚wissenden Kreis’ nicht würdig zu sein. Auf der anderen Seite spielt das Schamgefühl bei den „dunklen Geheimnissen“ eine große Rolle, jene Geheimnisse, die uns nach Bradshaw in ihren Bann ziehen. Geheimnisse begegnen uns von der Geburt an bis zum Tode, sie beziehen sich oft ebenso auf den Körper mit seinen Störungen und Krankheiten wie auf das Selbst mit all seinen Devianzen. Im Weiteren verortet Bradshaw materiellen Besitz (mit Blick auf dessen Herkunft), Intimität und Sexualität als oftmalige Ursache für Mysterien in dem Bereich der Geheimnisse.
Das Empfinden von Würde des Selbst stellt einen wichtigen Aspekt im Zusammenhang mit Geheimnissen dar. Geht es um die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, taucht z.B. oftmals die Vorgabe des „guten Rufs“ auf, dem wir uns schnell verpflichtet fühlen (sollen). Die Familie stellt in diesem Zusammenhang nochmals einen besonderen Verband dar, wenn die Frage der Familienehre oft stark emotional besetzt ist. Aus der Kindheit ist uns vielfach der Auftrag bekannt, „dass wir den guten Ruf der Familie nicht beschmutzen dürfen“. Gelang es nicht, sich in die Konventionen zu fügen, so war Geheimhaltung ein Ausweg. Bis in das vorangegangene Jahrhundert hineinreichend galt es noch, die Familienehre unter allen Umständen zu wahren, „koste es, was es wollte“ – nicht selten galt auch Selbstmord gut genug um den Familienruf wiederherzustellen. Dabei lassen sich Gefühle von Scham und Schuld als Motivation für Geheimhaltung und Geheimnisse verstehen. Das Gefühl der Beschämung zählt zu den sozialen Affekten – ob durch die Umwelt oder im Überich implementiert, wird ein Verstoß äußerlich oder innerlich sanktioniert und ist in dieser Weise von Demütigung und Vernichtungsängsten begleitet. Im Anschluss entwickeln sich wiederholt Schuldgefühle und Verlust des Selbstwertgefühls. Diese beiden Affekte verweisen auf die Angst vor der Bloßstellung des Selbst. Das Gesicht stellt mit dem Autor den Ort des Schamgefühls dar – deutlich wird dies im Ausdruck des „Gesichtsverlusts“ und der Scham-Reaktion, unser Gesicht zu verdecken oder verhüllen, um eine weitergehende Bloßstellung zu vermeiden.
Zum Thema der Weitergabe von Familiengeheimnissen erfand Anne Schützenberger (2010) ein Konzept, in dem sie darlegt, wie das Leben der Vorfahren in unserer Psyche wiederkehrt. Demnach haben biographisch relevante Ereignisse im Leben der Vorfahren jedenfalls Auswirkungen auf die Psyche der Nachkommenden. Sind diese als Konflikte und traumatisierenden Ereignisse nicht gelöst, bedingen sie aktuelle psychische Störungen und Krankheiten. Die Kenntnis der eigenen Familiengeschichte soll nach Schützenberge dem Erkrankten helfen, wobei die Autorin eine Unterscheidung von transgenerationalen und intergenerationalen Gedächtnislücken für wichtig erachtet. Sie differenziert zwischen Geheimnisinhalten, die intergenerational durch gedachte und ausgesprochene Kommunikation weitergegeben werden, und einer transgenerationalen Weitergabe, bei der „das Verschwiegene, das Verheimlichte und das Ungesagte gedeiht“. Serge Tisseron (2000) legt den Blick auf unterschiedliche Arten von Familiengeheimnissen. Er differenziert diese in Geheimnisse, die im Zusammenhang von Ereignissen aus dem persönlichen Leben heraus entstehen, und jenen, die sich aus dem kollektiven Leben entwickeln. Das Phänomen des Schamempfindens verknüpft aufeinanderfolgende Generationen miteinander und wird so von einer zur anderen weitergegeben. Dabei trifft Tisseron eine ähnliche Unterscheidung wie Schützenberger und differenziert zwischen Geheimnissen, die von einem vorstellbaren aber unsagbaren Ereignis berichten und jenen, die von unvorstellbaren Ereignissen zeugen. Freud (1919) verdeutlicht in seinem Kapitel „Das Unheimliche“, dass etymologisch eine sprachliche Verknüpfung der Begriffe „heimlich“ „heimelig“ und „Heim“ zu erkennen ist. Alles Unheimliche wird demnach heimlich als etwas Verdrängtes aus heimeligen, infantilen Zeiten wiedererkannt und macht somit Angst.
„
Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“
(Freud 1919, S. 249).
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Mag. Silvia Prosquill