Anton Walter Freud: Ein Leben im Exil
Autor/in: Peter Pirker / Sabrina Zehetner
Der Historiker und Politikwissenschafter Dr. Peter Pirker schildert die Geschichte Anton Walter Freuds, Sigmund Freuds Enkelsohn und sein abenteuerliches Leben als Flüchtling und SOE Agent.
Wie sind Sie zu Anton Walter Freud gekommen und was hat Sie persönlich an der Thematik interessiert?Peter Pirker: Ich bin im Zuge meiner Recherche zu Österreichern im britischen Kriegsgeheimdienst, der Special Operations Executive, auf Anton Walter Freud gestoßen. Da waren einerseits Wehrmachtsdeserteure dabei und andererseits Juden und politische Gegner, die 1938 von den Nazis aus Österreich vertrieben worden sind. Die Flüchtlinge wurden in England nach einer Phase der Internierung und Einsätzen in den Pionierabteilungen der Britischen Armee zur SOE rekrutiert, weil sie sich bereit erklärt haben, auch gefährliche Einsätze hinter den deutschen Linien durchzuführen und auf diese Weise zum Kampf gegen den Nationalsozialismus beizutragen. Mich hat vor allem diese Geschichte des Widerstandes interessiert - einerseits von Wehrmachtssoldaten, die aus der Wehrmacht desertiert sind, und von Flüchtlingen im Exil, die sich dazu entschlossen haben einen aktiven Beitrag zur Niederschlagung des Nationalsozialismus zu leisten. Am Anfang hatte ich nur eine Liste mit Österreichern die bei SOE gewesen sind und die meisten davon hatten Decknamen, also Namen, die sie zu ihrer eigenen Sicherheit im englischen Exil angenommen haben, damit sie, falls sie während oder nach einem Einsatz festgenommen werden, nicht identifiziert werden können. Einer der wenigen, die ihren Namen nicht geändert haben, war Anton Walter Freud. Für mich war er daher einer, der am leichtesten zu identifizieren gewesen ist und mit Hilfe eines anderen Flüchtlings aus Wien, nämlich Eric Sanders, konnte ich Kontakt aufnehmen. Eric Sanders ist jetzt 97 Jahre alt und der letzte Lebende dieser österreichischen Flüchtlinge, die bei SOE waren. Eric Sanders hat nach 1945 die Reunions, die jährlichen – wenn man so will – Veteranentreffen dieser Gruppe organisiert und auch ein kleines Archiv über die österreichische Abteilung der SOE betrieben. So bin ich über Eric Sanders zu Anton Walter Freud gekommen. Das war 2003. Ich habe damals eine Reise nach England vorbereitet, um mit einer Reihe von ehemaligen Österreichern und Deutschen, die bei SOE gewesen waren, Interviews zu führen. Zu einem direkten Treffen mit Walter Freud ist es nicht mehr gekommen, weil er kurz vor dem vereinbarten Termin im Februar 2004 verstorben ist. Ich hatte allerdings ein längeres Telefonat mit ihm, nachdem ich ihm einen Brief geschrieben hatte. Er versuchte dabei im Wesentlichen einzuschätzen, wer ich bin, welchen Hintergrund ich habe, warum ich mich für seine Geschichte interessiere. Es war sehr interessant, welche Fragen er gestellt hat und was er über Österreich und die österreichische Gesellschaft gesagt hat.
Sie schreiben, dass SOE-Mitarbeiter in Österreich nach dem Krieg als Kriminelle gegolten haben. Ist das noch immer so?Peter Pirker: Das war vor allem auf die Wehrmachtsdeserteure gemünzt, die, nachdem sie der Wehrmacht den Rücken gekehrt haben, natürlich von der Wehrmachtsjustiz als Fahnenflüchtige, als Verräter, als Gemeinschaftsschädlinge bezeichnet wurden. In den meisten Fällen war es auch so, dass festgenommene Deserteure hingerichtet worden sind. Wir gehen von etwa 1.400 Hinrichtungen aus. Die Wehrmachtdeserteure sind erst im Jahr 2009 durch ein Gesetz der Republik offiziell rehabilitiert worden und seit 2014 gibt es am Ballhausplatz auch ein Denkmal für sie, aber als ich diese Geschichten recherchiert habe, da wurden Deserteure natürlich noch von weiten Teilen der Bevölkerung als Verräter angesehen und die Urteile durch die NS-Justiz gegen sie waren noch nicht aufgehoben. Sie waren zu dem Zeitpunkt auch noch sozial diskriminiert, d.h. sie waren sozial schlechter gestellt als z.B. SS-Männer, die Wachen im Konzentrationslager gewesen sind. Was die Flüchtlinge betrifft, so hat Anton Walter Freud natürlich später mehrfach darauf hingewiesen, dass er die Art und Weise wie die österreichische Nachkriegsgesellschaft und Nachkriegspolitik mit den von den Nazis Vertriebenen umgegangen ist, kritisiert. Er hätte sich zum Beispiel erwartet, dass Österreich ihn auffordert zurückzukehren oder zumindest einlädt. Das ist nach seiner eigenen Auskunft nie passiert und das hat ihn eigentlich schon gekränkt. Das ist eine Kritik, die bei sehr vielen ehemaligen Flüchtlingen anzutreffen war. Das hat sich auch erst in den 2000er Jahren etwas verbessert, nachdem der Nationalfonds eingerichtet worden ist. Man kann schon sagen, dass Anton Walter Freud gegenüber der österreichischen Nachkriegsgesellschaft immer skeptisch geblieben ist. In unserem Telefonat hat er mich zuerst gefragt, woher ich komme und dann habe ich gesagt: „Aus Wien“. Und er hat gefragt: „Nein, wo sind Sie aufgewachsen? Woher kommen Sie?“. Ich habe gesagt: „Aus Kärnten.“ Er hat dann sofort auf die politische Situation in Kärnten Bezug genommen. Das war damals noch unter Landeshauptmann Haider und er hat darauf aufmerksam gemacht, dass er die Situation sehr kritisch einschätzt und hat dann gemeint: „Na ja aus Kärnten – das ist schlecht. In Kärnten sind sehr viele Nazis, nach wie vor.“
Ist Anton Walter Freud jemals nach Österreich zurückgekehrt?Peter Pirker: Er hat Wien schon besucht, aber privat. Er war auch in Velden in Kärnten auf Urlaub, aber eine offizielle Einladung zur Rückkehr hat es nicht gegeben.
Und vor Ihnen hat sich noch niemand mit Walter Freud beschäftigt?Peter Pirker: Doch. Zwei Texte von Anton Walter Freud zu seinen Erfahrungen zwischen 1938 und 1945 sind in einem Buch von Adi Wimmer erstmals 1993 erschienen. Generell kam die Beschäftigung mit dem Exil kam in Österreich erst spät. Im Wesentlichen wurde die Forschung seit Mitte der 1980er Jahre durch das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes und andere außeruniversitäre Initiativen, wie der Theodor Kramer Gesellschaft, vorangetrieben.
Sehr spät…Peter Pirker: Das ist absolut spät und hat natürlich damit zu tun, dass die Exilanten und Flüchtlinge nach 1945 nicht nach Österreich zurückgeholt wurden, beziehungsweise gab es keine politischen Initiativen, um die Vertriebenen zurück nach Österreich zu holen. Man hat zwar sehr viel getan, um die Kriegsgefangenen zurückzuholen, aber hinsichtlich der Zehntausenden Vertriebenen wurde nichts dergleichen unternommen. Im Gegenteil, man hat eigentlich alles getan, um keine Massenrückkehr der Vertriebenen zu befördern oder in die Wege zu leiten.
Was hat sich durch Ihre Recherche geändert?Peter Pirker: Die SOE-Recherchen waren weitgehend Neuland. Das hatte aber damit zu tun, dass die Archive der SOE bis Ende der 1990er Jahre verschlossen waren, weil es sich eben um Geheimdienstakte handelte, die von der britischen Regierung erst geöffnet wurden, nachdem die Öffentlichkeit das eingefordert hat. Mein erstes Buch dazu aus dem Jahr 2004 wurde in der britischen Botschaft präsentiert. Das ist schon auf Resonanz gestoßen, ja. Aber die Geschichte mit den Wehrmachtsdeserteuren war eine viel größere Diskussion. Die Dokumentation der Beteiligung von Wehrmachtsdeserteuren an SOE-Einsätzen hat auch gezeigt, dass viele Deserteure nicht nur aus Feigheit oder aus persönlichen Motiven desertiert sind, wie ihnen oft unterstellt wurde, sondern auch um Beiträge zur Befreiung Österreichs zu leisten, wie das ja die Moskauer Deklaration von 1943 von den Österreichern verlangt hat, damit Österreich sozusagen wieder als eigenständiger Staat errichtet werden kann.
Um auf Walter Freud zurückzukommen – hat er Sigmund Freud irgendwann erwähnt?Peter Pirker: Ich glaub eher, dass es umgekehrt war. Anton Walter Freud ist sehr oft zu seinem Großvater befragt worden. Vor allem in England und den USA gibt es ein immenses Interesse an Sigmund Freud. Das kann man sich in Österreich gar nicht vorstellen. Der bekannteste Mensch österreichischer Herkunft war in den 1960er und 1970er Jahren in den USA nicht Wolfgang Amadeus Mozart, sondern Sigmund Freud und in Großbritannien ist es ja nicht anders gewesen. Die Familie Freud war sehr bekannt, sehr berühmt – nicht nur Sigmund, sondern auch andere Mitglieder der Familie. Da war Anton Walter Freud weniger prominent. Er hat ja nach seiner Rückkehr nach England Chemie in Loughborough studiert und war dann im Wesentlichen Zeit seines Lebens als Chemiker für British Petrol tätig. Er ist weniger in der Öffentlichkeit gestanden, aber er hat häufig Auskunft über seine Familie und seinen Großvater gegeben und auch Vorträge gehalten. In seiner Kindheit hatte er wohl nicht so engen Kontakt zu seinem Großvater jenseits von Familienessen oder Familienfesten.
Und da gab es doch auch innerhalb der SOE die Verbindung zu Wolfgang Treichl und Georg Breuer. Waren sie später befreundet? Haben sie sich getroffen oder gekannt?Peter Pirker: Die Verbindung zwischen Breuer und Freud rührte einfach daher, dass beide in England zu SOE rekrutiert und gemeinsam zu Agenten ausgebildet worden sind. Da haben sie sich kennengelernt. Schließlich sind sie ja auch im April 1945 gemeinsam in einen Fallschirmeinsatz gegangen. Ich glaube nicht, dass sie sich in Wien gekannt haben, denn Georg Breuer war um mehr als zehn Jahre älter als Walter Freud. Sehr gut gekannt haben sich ihre Großväter Josef und Sigmund. Sie haben gemeinsam die bekannten Studien über Hysterie verfasst. Wolfgang Treichl führte ein anderer Weg zur SOE. Er war Wehrmachtsoffizier, ist 1942 während der Schlacht von El Alamein desertiert und hat sich in britischer Kriegsgefangenschaft bereit erklärt, die Seiten zu wechseln, um gegen die Nazis zu kämpfen. Ob sich Breuer, Freud und Treichl 1944 persönlich in Süditalien getroffen haben, wo sie auf ihre Einsätze gewartet haben, kann ich jetzt nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen. Freud wusste auf jeden Fall über die Biografie und den Einsatz von Treichl Bescheid, denn er hat später auch einen Artikel darüber geschrieben. Wolfgang Treichl ist bei seinem Einsatz im Oktober 1944 in Tolmezzo erschossen worden, beziehungsweise hat sich selbst erschossen, als er in die Hände einer Wehrmachtseinheit gefallen war. Das Zusammentreffen von Freud, Breuer und Treichl bei SOE beschreibt ein wenig das Milieu des Wiener Großbürgertums, von dem sich die Führungsoffiziere bei SOE aktiven Widerstand gegen die Nazis erwartet haben. Dazu kam eine gewisse Intellektualität, Bildung, Fitness und selbstbewusstes Auftreten, alles Eigenschaften, die für die Bewältigung risikoreicher Einsätze nötig waren. Auch die kurzen Nachkriegskarrieren in der britischen Armee waren ähnlich. Freud wurde Ermittler im Rahmen der britischen War Crimes Investigation Unit in Norddeutschland und trug wesentlich zur Verurteilung von NS-Tätern bei. Breuer war als ausgebildeter Jurist im Rahmen der British Army Legal Unit in Wien am Aufbau der Rechtsordnung beteiligt.
Sie erwähnen in Ihrer Arbeit, dass die Agenten nicht wussten, dass sie bei der SOE waren. Wie kam es dazu?Peter Pirker: Sie wussten den Namen der Organisation nicht. Aber sie wussten selbstverständlich, dass sie bei einer Art militärischem Geheimdienst waren. Vor Beginn der Ausbildung mussten sie ja auch einen Secrets Act unterzeichnen, wo sie sich zu Stillschweigen verpflichtet haben. Der Name der Organisation ist erst nach ihrer Auflösung nach Kriegsende bekannt geworden, als die ersten Berichte erschienen sind, wo es auch darum gegangen ist, zu zeigen, was diese Einheit geleistet hat.
Können Sie uns die Einsätze ein wenig beschreiben? Peter Pirker: Nach einer mehr als einjährigen Ausbildung ist Freud mit anderen Agenten im Sommer 1944 nach Italien transportiert worden, wo die Basis der SOE für Einsätze in Österreich, Norditalien und am Balkan gewesen ist. am Balkan, Griechenland, usw. gewesen ist. Die Einsatzplanungen waren zunächst darauf ausgerichtet, Kontakte mit Widerstandsorganisationen in Österreich zu knüpfen –einerseits über Einschleusungen mit Hilfe der Partisanen aus Jugoslawien auf dem Landweg. Das hat sich aber im Jahr 1944 als wenig erfolgreich herausgestellt. Dann gab es Versuche Agenten über die Partisanengebiete in Friaul nach Österreich einzuschleusen. Das ist zum Teil geglückt, aber zum Teil auch missglückt. Es gab viele Todesopfer. Manche Agenten sind in Österreich einfach verschwunden und nicht mehr aufgetaucht, so dass man auch diese Route im Spätherbst 1944 eingestellt hat. Im Frühjahr 1945, in der Endphase des Krieges, wurden Fallschirmeinsätze vorbereitet. Agentengruppen sprangen blind in bestimmten neuralgischen Zonen in Österreich ab, d.h. ohne dass am Boden ein Empfangskomitee vorhanden gewesen wäre, ohne zu wissen, was sie erwartet. Die Aufgaben waren einerseits Sabotage von Verkehrsinfrastruktur durchzuführen und andererseits Informationen über die politische Situation zu sammeln, und wenn möglich, den Einmarsch der Alliierten vorzubereiten. Das war im Wesentlichen der Aufgabenbereich derjenigen SOE Agenten, die im April 1945 in der Obersteiermark abgesprungen sind und zu diesen Männern gehörten Anton Walter Freud und Georg Breuer. Viele dieser Einsätze sind allerdings schon in der Ausführung unter keinem guten Stern gestanden, da es natürlich sehr schwer war, das Zielgebiet genau zu erreichen. Es war dann auch oft so, dass die Absprünge bei schwierigen Wettersituationen erfolgten und so war es auch bei Anton Walter Freud, der von seiner Gruppe getrennt worden ist und im Grunde alleine in der Obersteiermark in der Nähe von Judenburg gelandet ist – relativ weit entfernt von seinem Zielort. Er musste sich einige Tage allein durchschlagen. Schließlich ist es ihm gelungen, den Flughafen Zeltweg zu erreichen, der für die Briten interessant war, beispielsweise für die Evakuierung von britischen Kriegsgefangenen, die sich in einem Lager in Wolfsberg befanden. Freud versuchte in Verhandlungen mit dem Kommandanten des Flughafens, die Befehlsgewalt über den Flughafen zu bekommen. Es gab ein Meeting mit regionalen NS-Funktionären. Wie dies genau abgelaufen ist, darüber gibt es verschiedene Versionen. Anton Walter Freud hat darüber später in seinen Memoiren geschrieben. Es gibt einen Funkspruch, den er von diesem Flughafen aus an die SOE-Basis abgesetzt hat, wo er meldet, dass er am Flughafen ist, und dass er eine Bestätigung von seiner Basis braucht, damit die Deutschen ihn als britischen Repräsentanten anerkennen. Freuds Führungsoffiziere in Italien haben auf dieses Telegramm nicht geantwortet, weil sie befürchteten, dass er festgenommen worden war. Freud ist dann von dem Kommandanten des Flughafens in Zeltweg zu General Lothar Rendulic geschickt worden, der als Befehlshaber der Heeresgruppe Süd sein Quartier in der Nähe von Linz hatte. Rechtlich gesehen war Freud zu diesem Zeitpunkt Kriegsgefangener, aber in seiner eigenen Wahrnehmung war er das nicht. Unterwegs gewesen ist er in Begleitung oder unter Aufsicht, je nachdem wie man es betrachtet, eines Majors der deutschen Wehrmacht. Rendulic war in diesen letzten Kriegstagen in Linz nicht mehr anzutreffen. Freud ist dann mit Hilfe der US-Army über Salzburg und Paris zurück nach England geflogen.
Ist das die wahre Geschichte?Peter Pirker: Das ist meine Rekonstruktion. Seine eigenen Darstellungen sind viel spannender zu lesen. Da beschreibt er auch sein Treffen mit den NS-Führern in Zeltweg sehr eindrücklich: So berichtete er, dass die Nazi-Bonzen nacheinander zu ihm gekommen sein, um ihm ihre Liebe zu den Juden zu versichern.
Freud wurde ja auch als Enemy Alien nach Australien interniert. Wie ist es dazu gekommen?Peter Pirker: In England war die Situation für Flüchtlinge aus dem deutschsprachigen Raum, also aus Deutschland und Österreich im Wesentlichen, zunächst sehr schwierig. Es gab in der britischen Öffentlichkeit anfänglich eine ablehnende Stimmung gegenüber den Flüchtlingen, vor allem gegenüber den deutschsprachigen Flüchtlingen, weil es die Befürchtung gab, und die wurde von den Boulevardmedien stark geschürt, dass sich unter diesen Flüchtlingen möglicherweise Nazis befinden, beziehungsweise Leute, auf die man sich nicht verlassen kann und die in Wirklichkeit noch immer zu Deutschland halten würden. Deshalb hat man den Großteil der männlichen Flüchtlinge in Lager interniert und einen Teil davon nach Australien bzw. Kanada verschifft. Unter den Flüchtlingen, die nach Australien gebracht worden sind, befand sich auch Anton Walter Freud. Das Schiff Dunera war ein berüchtigter Flüchtlingstransport nach Australien gewesen, weil auf dem Schiff wirklich sehr schlechte Bedingungen für die Flüchtlinge geherrscht haben. Freud ist dann auch eine Zeit lang in Australien interniert gewesen. In der Zwischenzeit hat sich die Stimmung in England verändert, so dass man sich überlegt hat: „Na ja, jüdische Flüchtlinge, die aus Österreich und Deutschland vertrieben worden sind, sollte man doch nicht als Feinde betrachten. Die haben ja ein natürliches Interesse daran, dass die Nationalsozialisten den Krieg verlieren“. Deshalb wurden Überlegungen angestellt, wie man das Potential der deutschsprachigen Flüchtlinge nutzen kann. Die Flüchtlinge konnten sich zur britischen Armee melden - allerdings bis 1943 nur zu nicht-bewaffneten Einheiten, also im Wesentlichen zu Pioniereinheiten. Anton Walter Freud war nach seiner Rückkehr in Australien auch in einer Pioniereinheit. Die meisten jungen Flüchtlinge waren davon nicht begeistert, weil sie der Ansicht gewesen sind, dass sie einen viel effektiveren Beitrag in den bewaffneten Einheiten leisten können. Deshalb hat sich Anton Walter Freud 1943 bei erster Gelegenheit zur SOE gemeldet.
Wie hat er die Flucht nach Großbritannien erlebt?Peter Pirker: Er ist mit seinem Vater Martin geflüchtet. Er ist früher als der Rest der Familie nach London gekommen, weil sein Vater, der den Psychoanalytischen Verlag leitete, damit rechnete, dass die Gestapo sehr bald seine Wohnung durchsuchen würde. Die Befürchtung war, dass Martin Freud die Deportation in das Konzentrationslager Buchenwald drohte. Deshalb ist Martin Freud mit seinem Sohn und zwei weiteren Familienmitgliedern über Paris nach London gereist, früher als der Rest der Familie. Sigmund Freud hat, glaube ich, Ausreisevisa bekommen, allerdings nicht ausreichend genug, um die gesamte Familie in Sicherheit zu bringen, so dass vier Schwestern in Wien zurückgeblieben sind. Die vier Frauen sind von den Nazis ermordet worden. Diese Familienerfahrung sprach Anton Walter Freud in seinen Texten und Erzählungen an.
Wie hat er Großbritannien wahrgenommen?Peter Pirker: Das war zwiespältig. Zuerst war da diese Situation, dass er aufgenommen worden ist. Das war natürlich mit einer großen Dankbarkeit gegenüber England als Zufluchtsort verbunden und er konnte ja auch mit seinem Studium in Loughborough beginnen. Aber er ist dann aus einer Unterrichtseinheit heraus festgenommen und interniert worden. Das war ein Schock und die folgende Behandlung durch Internierung, Verschiffung nach Australien – das waren Erfahrungen, die zu einer belastenden psychischen Situation geführt haben - zu einem Gefühl der totalen Einsamkeit, dass es keinen Ort auf der Welt gibt, wo er und seinesgleichen, also Juden und Jüdinnen, ohne das Ziel von staatlicher Gewalt zu sein oder belästigt zu werden, leben können. Dieses Gefühl der Unsicherheit hat er in seinen Memoiren sehr eindrücklich beschrieben - die existenzielle Verunsicherung durch die Vertreibung aus Österreich, die ja eigentlich überraschend gekommen ist für die Familie Freud, weil sie bis zum „Anschluss“ eigentlich nicht damit gerechnet hat, dass es zu so einer dramatischen Situation der Verfolgung kommen würde. Da war zunächst diese Verunsicherung auf Grund der Verfolgung in Österreich und dann die zweite Form der Verunsicherung in England durch das Misstrauen, dass ihnen aus der britischen Gesellschaft entgegengeschlagen ist, und dass er durch die Festnahme und Internierung auch am eigenen Körper erfahren hat. Das war die Situation von 1939 bis 1940/41. Im Pioneer Corp war da immer noch so ein Gefühl nicht wirklich angekommen und angenommen zu werden. Man hat die deutschsprachigen Flüchtlinge im Wesentlichen dazu verwendet Gräben auszuheben, Barracken zu bauen, Bombenschäden wegzuräumen - also Hilfsarbeiterjobs, wo viele der jungen jüdischen Flüchtlinge gedacht haben: „Ja wir können mehr und wir wollen mehr – Wir dürfen aber nicht“. Der Einsatz bei der SOE war etwas, das jungen jüdischen Männern sehr viel Selbstwertgefühl zurückgegeben hat. Da sind sie auch mit den entsprechenden Insignien ausgestattet worden. Sie hatten britische Uniformen mit Abzeichen von Eliteeinheiten. Sie haben ein wirklich professionelles und gutes Training durchlaufen. Sie wurden als Akteure ernstgenommen und das merkt man an sehr vielen Beschreibungen, dass sie hier etwas an Selbstbewusstsein zurückbekommen und sehr viel Selbstvertrauen aufbauen konnten. Bei Freud ist dann noch etwas anderes dazugekommen. Während der Ausbildung und Wartezeit in Italien, kam es auch dazu, dass die jüdischen Flüchtlinge, die in Großbritannien ausgebildet worden sind, mit Wehrmachtsdeserteuren zusammengekommen sind, z.B. bei einem Skikurs nördlich von Rom, und dort kam es dann auch zu Konflikten zwischen beiden Gruppen. Es gibt einige Aussagen von SOE-Agenten, die ich interviewt habe, die schildern, dass es hier auch zu antisemitischen Äußerungen von Seiten österreichischer Wehrmachtsdeserteure gekommen ist, die sich auch speziell gegen Anton Walter Freud gerichtet haben, weil er einer bekannten jüdischen Familie entstammte. Freud wurde von SOE-Kollegen tatkräftig verteidigt, sodass es mit diesen Äußerungen bald vorbei war. Letztlich artikulierte Freud in seinen Berichten gegenüber der britischen Gesellschaft immer wieder sehr große Dankbarkeit. Er konnte nach seinem Armeedienst an die Universität zurückkehren, sein Studium abschließen und sich beruflich gut etablieren.
War das Misstrauen gegenüber Flüchtlingen ein britisches Phänomen oder konnte das z.B. in den U.S.A. auch beobachtet werden?Peter Pirker: Es war unterschiedlich, je nachdem wie schwer oder leicht sich Flüchtlinge bei der Integration getan haben. Wenn man sich die Emigration von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen anschaut, die schon einen gewissen Namen gehabt haben, ist es ihnen relativ leicht gefallen sich in Elite-Universitäten einzugliedern und dort einen Job zu bekommen. Andere, denen das nicht geglückt ist, und das war mit Sicherheit die Mehrheit, haben große Schwierigkeiten gehabt. Es war auch in den U.S.A. so, dass die Armee dann die, wenn man so will, Integrationsmaschine gewesen ist. Die Integration der zumindest der jungen Männer in die Gesellschaft ist sowohl in Großbritannien als auch in den U.S.A. sehr stark über die Armee gelaufen, zum Teil war das auch bei Frauen der Fall, die in Kriegsinstitutionen beschäftigt waren. Das beschreiben eigentlich alle SOE-Agenten, die ich interviewt habe. Der Eintritt in die Armee und vor allem als bewaffnete Einheiten haben im Grunde dazu geführt, dass sie sich als Briten gefühlt haben - über die Ausstattung, Organisation und das Umfeld. Man war in einem dezidiert britisch-englischen Umfeld und nicht in einer Enklave der Emigration und das ist für die Integration und Anpassung einfach enorm wichtig. Und viele haben auf Grund ihres Dienstes in der britischen Armee die Möglichkeit bekommen sich für die britische Staatsbürgerschaft zu bewerben.
Dr. Peter Pirker ist Historiker und Politikwissenschaftler am Institut für Staatswissenschaften an der Universität Wien. Seine Forschungsgebiete reichen von der Zeitgeschichte und politischen Geschichte Österreichs bis zu der Rolle der Geheimdienste im zweiten Weltkrieg und der frühen Phase des Kalten Krieges. Im Jahr 2012 wurde sein renommiertes Werk „Subversion deutscher Herrschaft. Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich“ veröffentlicht.