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Leitartikel


DER WIENER PSYCHOANALYTIKER möchte nicht nur bereits international etablierten Psychoanalytikern/Innen, sondern auch noch unbekannten Psychoanalytikern/Innen die Gelegenheit geben einen selbstverfassten, bisher noch nicht publizierten Artikel auf der Titelseite unseres Onlinemagazins zu posten!

Im Forum werden dann dazu alle User Stellung nehmen, Fragen formulieren und kommentieren können. Wir wollen dadurch einen bisher so noch nicht dagewesenen, internationalen Gedankenaustausch zwischen Psychoanalyse-Interessierten ermöglichen.
Aktuelle Textsprache ist Deutsch und/oder Englisch.

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(Werden Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich in der männlichen oder weiblichen Form verwendet, so schließt dies das jeweils andere Geschlecht mit ein.)

Homo Ludens

Autor/in: Sabrina Zehetner (DWP)

(24.05.2017)
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Treat it like a game. Das 21. Jahrhundert ist gekennzeichnet von einer kulturellen Gamification. Mit ludischen Technologien wird die virtuelle Realität zur realen Virtualität. Aus psychoanalytischer Sicht versprechen virtuelle Identitäten auf unbewusster Ebene vollkommene Autonomie, aber es besteht ein inhärenter Unterschied zwischen dem bloßen Spiel und der Rationalität eines Games.

Obwohl die Vorstellung des sub specie ludi recht antik ist, verlangt Erfolg im digitalen Zeitalter ein gewisses Maß an Verspieltheit - Du sollst Spaß an deiner Arbeit haben! Ludifizierung und Game Design sind zu den dominierenden Konzepten in der Bildung, der Kunst, der Politik, der Ökonomie und der Kriegsführung geworden – sogar die menschliche Identität selbst befindet sich in einem konstanten Zustand des Spiels. Johan Huizingas Werk „Homo Ludens“ (1938) erfährt zurzeit eine Art Renaissance ungeachtet der Tatsache, dass Technologie und Spiel in Huizingas Theorie praktisch nichts gemeinsam haben. Johan Huizinga war ein holländischer Philosoph, der die Bedeutung des Spiels als prägendes Element in der Kultur erörterte. Besonders verbreitet sind seine Theorien bei Überlegungen im Game Design. Huizinga bezieht sich auf die Aktivität des verspielten Vortäuschens als „Bewusstsein, das sich vom alltäglichen Leben“ unterscheidet und vorübergehend Ordnung und Perfektion erschafft. Worauf Huizinga jedoch nicht eingeht, ist die Tatsache, dass Spiel in einer Zwischenwelt zwischen der alltäglichen Welt und der Welt des Vortäuschens stattfindet. Die Fähigkeit zwei widersprüchliche Erfahrungen zugleich zu haben, wird in der Psychoanalyse Ichspaltung genannt. Wenn man sich einen Horrorfilm ansieht, empfindet man vermutlich Angst, während ein anderer Teil des Ichs sich bewusst ist, dass der mordende Serienkiller auf dem Bildschirm nicht real ist. Das Auftreten dieser zwiespältigen Gefühle – Angst und Vergnügen – wird als „Angstlust“ bezeichnet – ein Begriff, der auf antike Tragödien und Mythen zurückgeht. Auf Grund der schieren Menge an Möglichkeiten, die sie bieten und den ihrer Natur zu Grunde liegenden Eigenschaften, spielen digitale Medien bei der Fragmentierung des Selbst eine wesentliche Rolle.

Bis zum heutigen Tag nehmen Kulturpessimisten wie Baudrillard an, dass der passive Konsument von den Massenmedien manipuliert wird, nicht zwischen Realität und Vortäuschung unterscheiden kann und dadurch in einem Zustand der Hyperrealität gefangen ist. Medien-und Kommunikationswissenschaftler haben bewiesen, dass diese Annahme falsch ist – das Zweistufenmodell ist überholt und spätestens mit dem digitalen Zeitalter obsolet geworden. Wir haben es nicht mit einer geistig nach unten nivellierten „Masse“ zutun, sondern mit Individuen, die zwischen unterschiedlichen Personae (oder Ichspaltungen) und mehreren Realitäten pendeln. Mit dem passenden Equipment und ein wenig Know-How kann jeder mediale Inhalte produzieren und zum Co-Produzenten werden. Wir müssen uns kein besonders Wissen aneignen, um das Interface eines iPhones korrekt zu verwenden – die gute alte Versuch-und-Irrtum-Methode funktioniert zumeist bestens. In Extremfällen jedoch, kann dieser nonchalante modus operandi schlimme Folgen haben und ethische Bedenken aufwerfen, wenn wir der Ansicht sind, dass unsere Taten keine Konsequenzen haben und über jede Kritik erhaben sind, da wir bloß ein Spiel spielen – mit den Gefühlen unserer Mitmenschen, ihrem Geld oder im Falle der Kriegsführung, mit ihren Leben.

Wie Georges Bernanos prophezeite,

“The cleverest killers of tomorrow will kill without any risk. Thirty thousand feet above the earth, any dirty little engineer, sitting cozily in his slippers with a special bodyguard of technicians, will merely have to press a button to wipe out a town, and scurry home in fear – his only fear – of being late for dinner.” (Diary of a Country Priest (1937)

Im Spiel kann das Individuum vorgeben jemand anderes zu sein und eine unbegrenzte Anzahl an Personae erschaffen. Dies ermöglicht Kindern und Erwachsenen ihre Kreativität zu entwickeln, und um Game of Thrones Autor George R. R. Martin zu zitieren, „ein lesender Mensch lebt tausend Leben vor seinem Tod“. Empathie und emotionale Intelligenz zu erlernen – was deutsche Klassizisten wie Schiller „Herzensbildung“ („nobleness of the heart“) nannten – ist das Herzstück des Spiels. Ein Kind zu verstehen, heißt sein Spiel zu verstehen; durch das Spiel drückt das Kind mannigfaltige Emotionen aus und wird mit gegenwärtigen und vergangenen Problemen fertig. Es ist ein Mittel, um das Kind auf das Erwachsensein vorzubereiten, indem es ihm hilft kognitive und motorische Fähigkeiten zu entwickeln. Es repräsentiert instinktives Handeln ohne ernsthafte Absicht. Mit dem Wort „Spiel“ assoziiert man eine frühe Entwicklungsstufe des Kindes, während „Game“ in Zusammenhang mit dem Erwachsenenalter steht. Das Spiel ist charakterisiert durch den Mangel an Zielen, die nicht mit der Handlung selbst verbunden sind. Anna Freud und Buhl legten ihren Fokus auf das Spiel als Bewältigungsmechanismus, um Gefühle von Angst zu überwinden. Freud selbst betrachtete das Spiel als Werkzeug, um Triebe partiell zu befriedigen mit der Intention Konflikte zu lösen und traumatische, schmerzvolle Erfahrungen loszulassen – ein kathartischer Denkansatz, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem Konzept des „Games“ aufweist, da das Spiel als Game immer auch ein bestimmtes Ziel verfolgt. Darüber hinaus schließt das Spiel auch immer eine Art Wettbewerb ein und kann deshalb eine sehr aufreibende Erfahrung darstellen.

In der Welt der Erwachsenen ist das Game zum ernsthaften Business geworden.

Game Theory (Spieltheorie) oder, wie Psychologen es nennen, „die Theorie sozialer Situationen“, ist ein Zweig der angewandten Mathematik, der sich mit menschlichem Konflikt und strategischen Entscheidungsprozessen in Wettbewerbsumgebungen beschäftigt. Spiel bezieht sich hier auf eine interaktive Situation, wo die Wahl des optimalen Verhaltens im Mittelpunkt des Interesses steht. Kosten und Nutzen hängen von den Entscheidungen anderer Individuen ab, die versuchen ihre Rentabilität zu maximieren. Klingt kompliziert? Dahinter steckt mit Sicherheit mehr als ein wenig schwarze Kunst. Game ist in er Game Theory mathematisiert und kann theoretisch auf jedes politische und ökonomische Ereignis angewandt werden.

Vielleicht liegt die Antwort auf unsere Bedenken in der Natur des Spiels selbst. Game kann also als rationalisiertes Spiel definiert werden, aber es ist der Naturzustand des Spiels, der uns mit dem nötigen Werkzeug und emotionaler Intelligenz ausstattet, um mit späteren Situationen als Erwachsener auf ethische und reife Weise umzugehen. Ludische Technologien wie virtual reality sind Werkzeuge, die Menschen mit ihren Handlungen und dem Umgang mit ihnen gestalten. Ob im Spiel oder Game, spielende Identitäten schwanken zwischen Individualismus und Kollektivität, Realität und Erscheinung und Entschlossenheit und Wandel. Auch wenn spielende Identitäten sich an der Möglichkeit erfreuen, ihre Masken kontinuierlich zu wechseln, so empfinden sie doch die Sehnsucht nach dem Ruhezustand im Herzen ihrer Subjektivität.


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