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Leitartikel


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(Werden Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich in der männlichen oder weiblichen Form verwendet, so schließt dies das jeweils andere Geschlecht mit ein.)

Begegnung mit den Patienten

Autor/in: Steven Stern

(17/05/2017)
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Vor kurzem wurde mein erstes Buch veröffentlicht “Needed Relationships and Psychoanalytic Healing: A Holistic Relational Perspective on the Therapeutic Process" (Routledge, 2017), es enthält eine komplexe Handlung mit vielen verschiedenen Teilen, aber im Kern geht es, um die einfach wenn auch etwas irrenführende Idee, Patienten zu begegnen: im analytischen Setting und vermehrt, während der ganzen Zeit. Ich bin nicht der Erste, der diesen Ausdruck benutzt, um die analytische Begegnung zu charakterisieren. Winnicott schrieb (z.B. 1960) über die analytische Interaktion als eine „ständige Adaption an die Bedürfnisse des Patienten“. Er verstand, dass viele Patienten solche Adaptionen bräuchten, die außerhalb des "Standard“ der analytischen Methode waren, zumindest am Anfang (Winnicott, 1962). In jüngster Zeit hat der Entwicklungsforscher und Theoretiker Louis Sander (1962,1995, 2008) die Phrase: „die Momente der Begegnung“ eingeführt, um die Zusammenarbeit und Koordination zwischen einem Elternteil und einem Kleinkind zu charakterisieren, dass dazu dient die Entwicklung und die emotionalen Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen. Später hat die Boston Change Process Study Group (D.N. Stern et al. 1998), wo Sanders ein Mitglied war, Sanders Konzept an analytischen zweier Therapien für Erwachsenen angewandt.

Sanders Konzept der Momente der Begegnung ist eine Matrix von verbundenen Prozesskonzepten und Ausdrücken, die er anwandte in seinem Versuch die Bewegung einer ausreichend guten Mutter und dem Säugling zu erfassen, welches als nicht lineares dynamisches System verstandenes wurde, dass sich zu einem immer effektiveren koordiniertem System zur Entwicklungsunterstützung des Säuglings entwickelt. Sein Ausdruck für dieses sich in Koordination entwickelnde System lautet relations Fitness: eine Verbindung von Richtungen, die durch die fortschreitende Spezifität der Anerkennung durch den Betreuer von den Zuständen und Bedürfnissen des Kindes erreicht wurde, und mit dieser Anerkennung die fortschreitende Spezifität der Verbindung, d.h. die entsprechenden Verhaltensweisen, die darauf abzielen, die aufkommenden Zustände und Bedürfnisse des Kindes zu erfüllen. Lesen Sie Sanders (2008) Schilderung und Kommentare, als er über das mittlerweile viel zitierte Videosegment, das von einem Mitglied von Daniel Sterns Forschungsteam aufgenommen wurde, redet; es zeigt wie ein Vater seine kleine Tochter im Arm hält und gleichzeitig informell mit anderen Mitgliedern des Teams redet, als sie alle zusammen am Rasen stehen während einer ihrer Hausbesuche von einem ihrer neonatalen Subjekten:  

…man sieht wie der Vater runter auf sein Baby schaut. Seltsamerweise schaut das Baby im selben Augenblick hinauf, dem Vater ins Gesicht. Danach hebt das Kind seinen linken Arm, der davor über dem Vater seinem rechten Arm hing. Wundersamer Weise sieht man im gleichem Bild, wie der rechte Arm des Vaters, der rechts herunterhing, sich gleichzeitig nach oben bewegt. Bild für Bild sieht man wie die Hand des Kindes und die des Vaters sich langsam nach oben bewegen. Endlich, als sich die Hände fast über dem Bäuchlein des Kindes treffen, greift das Kind mit seiner linken Hand den kleinen Finger von der rechten Hand des Vaters. In diesem Augenblick, schließen sich die Augen des kleinen Mädchens und sie schläft ein, weil ihr Vater weiter redet und anscheinend absolut unwissend, über dieses kleine Wunder von Zeit, Ort und Bewegung, das gerade in seinen Armen stattgefunden hat.

Dann, nachdem er über diese Interaktion geredet hat, wundert sich Sander:

Betrachten wir eine Art Prinzip der Ganzheit - das heißt, auf einem zugrunde liegenden Prinzip der Spezifität in Zeit, Ort und Bewegung aufbauend, das sich Richtungen zwischen Komponentensystemen verbinden - eine Verbindung, die notwendig ist, um eine kohärente Ganzheit in einem "System" zu konstruieren, das man sagen kann es "lebt"? (2008, pp.221-222)

Sander glaubt, dass die Prozessprinzipien, die er artikuliert, auch in erwachsenen psychoanalytischen Dyaden anwendbar sind. Aber wie würde eine solche Spezifität in einem Augenblick oder in einer längeren Periode der analytischen Behandlung aussehen? Was wäre zwischen einem Analytiker und einem erwachsenen Patient mit einer Geschichte des Entwicklungstraumas erforderlich, um "ihre Richtungen" zu verbinden, um "eine kohärente Ganzheit in einem "System" zu konstruieren, das man sagen kann es "lebt“? Ich habe die letzten vier Jahre damit verbracht eine Antwort auf diese Frage zu finden und bin zur Überzeugung gelangt, das die psychoanalytische Behandlung in ihrem Kern einen Erkennungsprozess involviert, der Vergleichbar ist, aber viel komplexer ist, als die Momente der Begegnung zwischen einem ausreichend guten Elternteil und einem Kleinkind, wie Sanders es auf Video aufgenommen hat.

Da erwachsene Patienten, die in der Kindheit relational traumatisiert wurden, in Situationen aufgewachsen sind, die für ihre frühen Entwicklungsbedürfnisse entschieden unfit waren, müssen die analytische Zusammenarbeit und die Fitheit bei der Begegnung mit den Patienten beginnen. Indem man Patienten in Räumen trifft, in denen es sich um eine fremde, misstrauische Erfahrung handelt, die sie vielleicht falsch verstehen oder vermeiden können, verneinen oder angreifen, auch wenn sie sich unbewusst danach sehnen und es suchen. Die extreme Feinheit, Komplexität und oft emotionale Turbulenz, die bei der Begegnung mit Patienten in solchen traumatisierten Räumen einher geht, erfordert ausgefeilte Beobachtungs-, Verarbeitungs-, Selbstreflexions-, Interpretations- und Relationskapazitäten und diese Kapazitäten kommen vor allem aus unserem Eintauchen in die klinische Beherrschung psychoanalytischer Theorien -je mehr desto besser. Das ist was ausreichend gute Eltern und ihre Kleinkinder relativ natürlich und instinktiv tun. Analytische Therapeuten von erwachsenen Patienten müssen das erst lernen durch die Inkubation von multiplen analytischen Theorien, persönliche Behandlung und Supervisionen und kumulatives Lernen aus klinischer Erfahrung und müssen das dann alles Kombinieren, um eine einzigartige psychoanalytische Form der Weisheit zu erlangen.

Viele der Dinge, die wir eigentlich sagen und mit den Patienten tun, fallen nicht geordnet in etablierte Kategorien der Analyse wie Interpretation, empathische Untersuchung, Konfrontation, Eindämmung, Halten und so weiter. Vielmehr sind sie mit dem Patienten und dem analytischen Moment konturiert, selektives und kreatives wird aus dem theoretischem Wissen gezogen, jedoch geleitet von der impliziten Bemühung, den Patienten in ihrer oder seiner einzigartigen Komplexität zu begegnen, an der Stelle der analytischen Dringlichkeit unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Zustands des Patienten, des Therapeuten und ihr Systems. Ich vermute, viele Leser würden antworten: "Natürlich! Bei der psychoanalytischen Behandlung geht es, fast per Definition, darum, die Patienten auf diese Weise zu begegnen." Ich würde zustimmen, wenn mit der "Begegnung" die Konzeption der Theorie der optimalen analytischen Operationen im veränderbaren Wandel bedeutet. In meiner Konzeption aber, übersteigt die Begegnung mit den Patienten oft die Theorie, angesichts der einzigartigen Komplexität der psychologischen Organisationen der Patienten und deren therapeutischen Bedürfnisse und sind daher immer komplex, einzigartig für einen Patienten und im Wesentlichen verbesserbar. Hier ist ein relativ einfaches Beispiel.

Mein zweiter analytischer Kontrollfall war eine junge Frau in Ausbildung, um eine Therapeutin zu werden, deren relationaler Instinkt und Urteil sowohl in ihrem persönlichen, als auch ihrem beruflichen Leben, mir fast immer unfehlbar schien, aber die, dank ihre Geschichte, viel zu unsicher war um ihren eigenem gutem Urteil zu vertrauen. Infolgedessen entwickelte sich eine Übertragung, in der sie eine ständige Bestätigung von mir forderte, indem sie immer nachfragte, was ich wirklich über ihre Neigungen, Entscheidungen und Handlungen dachte. Wenn ich auch nur etwas zögerte, oder ihr versuchte irgendetwas wie z.B. die übliche analytische ausweichende Antwort gab, eskalierte ihre Angst schnell, ebenso ihre Insistenz darauf, dass ich ihr erzähle, was ich wirklich dachte, bevor sie überhaupt willig nach Hause ging! Sie wusste, dass sie mich bedrängte ihr etwas zu geben das in dieser Ära gegen das psychoanalytische Dogma ging (ich war an einem Mainstream-Institut der American Psychoanalytic Association), und sie konnte das sogar nachempfinden. Manchmal scherzten wir darüber. Aber als es darauf ankam, war sie verzweifelt und rücksichtslos. Also, trotz meiner aufrichtigen Sorge, dass meine Arbeit mit ihr vielleicht nicht als "Psychoanalyse" von den oberen Mächten beurteilt werden könnte, habe ich meistens getan, wie sie wollte und gab ihr meine Ansichten direkt, die fast immer übereinstimmten mit ihren eigenen Instinkten. Immer wenn ich das tat, was mindestens einmal in jeder Sitzung war, wurde ihre Angst sofort zerstreut (denke an das Baby in Sanders Video) und sie fühlte sich ermutigt, hinauszugehen und zu denken oder zu tun, was auch immer sie für richtig hielt. In den zwei Jahren unserer analytischen Beziehung wuchs ihr Selbstvertrauen und ihre persönliche Veranlassung enorm; so sehr das sie, als sie den Zustand der Romanze verließ, die sehr vielversprechend erschien, das Vertrauen hatte, das Richtige zu tun ohne Validierung von meiner Seite zu brauchen. Nachfolgende Korrespondenz bestätigte ihr fortwährendes und wachsendes Glück und Sinn der Erfüllung, sowohl persönlich als auch beruflich. Es gab wenig Zweifel daran, dass trotz der psychoanalytischen "Regeln" meine ständige Beruhigung in diesem analytischen Fall, ein primärer Änderungsagent war. Um zurück auf die Analogie der geheimnisvollen Koordination von Sanders Vater und Tochter, die auf Video festgehalten wurde, zu kommen: Mein Patient und ich "haben unsere Richtungen vereint" in einer vergleichbaren, aber noch komplexeren Art und Weise, so dass sie letztlich entspannt genug war und jetzt mit einem verstärktem Selbstvertrauen, meinen analytischen "Finger" loslassen konnte und in die Flugbahn ihres eigenen Lebens zurückzukehren konnte.

Natürlich ist diese klinische Geschichte eine starke Vereinfachung. Es war viel mehr los in dieser Behandlung, als von einem einzigen Prinzip erfasst werden kann. Aber der Punkt, den ich zu illustrieren versuche, ist, dass in diesem Fall die kritische Art der Intervention - ein Modus, der in meinem jetzt 30-plus Jahre der Psychotherapie anders war, als jede andere, in der ich bis dahin war - entstanden aus dem einzigartigen Bedürfnissen und Anforderungen des Patienten im Rahmen unseres speziellen analytischen Systems und Prozesses.


Quellen/Referenzen:
Sander, L. (1962), Issues in early mother-child interaction. Journal of the American Academy of Child Psychiatry, 1: 144-166.

Sander, L. (1995). Identity and the experience of specificity in a process of recognition: Commentary on Seligman and Shanok. Psychoanalytic Dialogues, 5: 579-592.

Sander, L. (2008). Living systems, evolving consciousness, and the emerging person: A selection of papers from the life work of Louis Sander. (G. Amadei & I. Bianchi, Eds.). New York and London: Routledge.

Stern, D.N., Sander, L.W., Nahum, J.P., Harrison, A.M., Lyons-Ruth, K., Morgan, A.C., Bruschweiler-Stern, N. & Tronick, E.Z. (1998). Non-interpretive mechanisms in psychoanalytic therapy: the “something more” than interpretation. International Journal of Psychoanalysis, 79: 903-921.

Stern, S. (2017). Needed relationships and psychoanalytic healing: A holistic relational perspective on the therapeutic process. London: Routledge.

Winnicott, D.W. (1960). The theory of the parent-infant relationship. In The Maturational Processes and the Facilitating Environment (pp. 37-55). New York: International Universities Press, 1965.

Winnicott, D.W. (1962). The aims of psycho-analytic treatment. In The Maturational Processes and the Facilitating Environment (pp. 166-178). New York: International Universities Press, 1965.


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