Warum immer noch und wieder Freud?
Autor/in: Thomas Aichhorn
Es ist wahrlich erfreulich, dass es von nun an ein Onlinemagazin mit dem Namen „Der Wiener Psychoanalytiker“ geben wird. Das Ersuchen, einen Leitartikel dafür zu verfassen, habe ich zunächst gern angenommen. Als ich allerdings über die mir gestellten Fragen nachzudenken begann, vor allem über „Was fasziniert Sie an der Psychoanalyse? Gibt es etwas an ihr, was Sie nicht schätzen? Wenn Ja, was?“, wurde mir nur allzu bald klar, dass ich auf manche der Fragen keine Antworten weiß. Gleich auf den ersten Teil der Frage, die Formulierung „Was fasziniert Sie an der Psychoanalyse?“, habe ich keine geeignete Antwort, weil ich nämlich der Überzeugung bin, dass es
die Psychoanalyse, was immer das war oder sein sollte, längst nicht mehr gibt. Das hat mein Nachdenken in Bewegung gesetzt.
Zurück zum „Wiener Psychoanalytiker“. Wer anderer als Sigmund Freud sollte das wohl sein?
Aber,
warum immer noch und wieder Freud? Im Februar 1920 schrieb Freud an Ernest Jones, er habe von einem Kollegen ein Buch von Havelock Ellis geschenkt bekommen, „[…] containing an essay on ψA or rather on my personality which is the most refined and amiable form of resistance and repudiation calling me a great artist in order to injure the validity of our scientific claims [which is al wrong,
I am sure in a few decades my name will be wiped away and our results will last]”.
{Freud, S. (1993e [1908 – 39]): Briefwechsel Sigmund Freud – Ernest Jones, 1908 – 1939. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, S. 370. Hervorhebung im Text von mir.} Freuds Vorhersage, das Vergessen seines Eigennamens um der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse willen, erfüllte sich bisher nicht. Dass die Psychoanalyse an den Eigennamen Freud gebunden blieb, ist einerseits dadurch begründet, dass die Reproduktion der Psychoanalyse, sprich die der Psychoanalytiker, nicht nur durch eine theoretisch-praktische Ausbildung erfolgt, deren Lernprozesse im Medium eines prinzipiell allgemeinen Wissens vonstatten gehen, sondern auch durch ihre je eigene Analyse, die auf Freud und seine „rätselhafte Botschaft“ zurückverweist.
{Nach Gondek, H-D. (1998): „La séance continue“ Jacques Derrida und die Psychoanalyse. In: Jacques Derrida Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse! Frankfurt am Main: edition suhrkamp, S. 182f.} Michel Foucault zählte Freud zu den „Diskursivitätsbegründern“, die im Sinne der verführerischen rätselhaften Botschaft eine grundsätzlich unbegrenzte Diskursmöglichkeit schufen. Zwischen der Begründung der Psychoanalyse durch ihn und ihren späteren Umwandlungen bestehe aber, so Foucault, eine entscheidende Heterogenität. Die Errichtung einer Diskursivität sei nämlich nicht Teil ihrer späteren Transformationen, sie hebe sich notwendig von ihnen ab oder überrage sie. Daher sei es verständlich, warum in solchen Diskursivitäten mit unvermeidlicher Notwendigkeit immer wieder die Forderung nach einer „Rückkehr zum Ursprung“, zu Freud also, erhoben werde. Damit es aber zu einer Rückkehr kommen könne, müsse es erst einmal ein Vergessen geben und zwar nicht ein zufälliges Vergessen, nicht die Überlagerung durch irgendein Unverständnis, sondern ein wesentliches und konstitutives Vergessen. Der Begründungsakt selbst sei seinem Wesen nach so beschaffen, dass er nur vergessen werden könne. Das, was ihn manifestiere, das, was sich aus ihm herleite, sei zugleich das, was den Abstand zu ihm begründe und ihn verstelle. Es gelte, dieses nicht zufällige Vergessen in präzisen Operationen einzukreisen, die man lokalisieren, analysieren und durch die Rückkehr zu jenem Begründungsakt reduzieren könne. Foucault weiter: „Überdies richtet sich diese Rückkehr auf das, was in einem Text präsent ist, genauer noch, man kommt auf den Text selbst zurück, auf den Text in seiner Nacktheit und zugleich auf das, was im Text als Leerstelle, als Abwesenheit, als Lücke gekennzeichnet ist. […] Daraus folgt natürlich, dass eine solche Rückkehr, die zum Text selbst gehört, ihn beständig verändert, dass die Rückkehr zum Text kein historischer Zusatz ist, der zur Diskursivität als solcher hinzutrete und sie mit einer Ausschmückung verdoppelte, die letztlich unwesentlich ist; es ist eine effektive und notwendige Transformation der Diskursivität selbst.“ Und: „Um eine solche Rückkehr angeben zu könne, müssen wir ein letztes Merkmal hinzufügen: sie ist auf eine Art geheimnisvoller Verknüpfung von Text und Autor ausgerichtet. Weil der Text nämlich Text eines Autors ist, hat er von diesem Autor her begründenden Wert, und weil er Text dieses Autors ist, muss man auf ihn zurückkommen.“
{Foucault, M. (1969): Was ist ein Autor? In: Dits et Ecrits – Schriften. Erster Band. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2001: 1003-1041, Seite 1026f.} Das, was Foucault hier beschrieb, entspricht durchaus dem, woran der Psychoanalytiker arbeitete, dem ich die wesentlichsten Anregungen zu meinem eigenen Denken verdanke, Jean Laplanche nämlich. Mit seiner „Allgemeinen Verführungstheorie“, mit den verführerischen „rätselhaften Botschaften“, beabsichtigte er „Neuen Grundlagen für die Psychoanalyse“
{Deutsch: Laplanche, J. (1987): Neue Grundlagen für die Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag 2011. Englisch: Laplanche, J. (1987): New Foundations for Psychoanalysis. Oxford: Blackwell 1989.} zu schaffen. Er wollte bekanntlich keine „neue“ Psychoanalyse begründen, sondern für die eine, von Freud geschaffene Psychoanalyse neue, rationale, wissenschaftlich haltbarere Fundamente zu formulieren, die die Intention von Freuds Lehre bewahren.
In Freuds Arbeit „Psychoanalyse und Libidotheorie“ aus 1923 findet sich die Definition der Psychoanalyse, die seitdem in der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft der Psychoanalytiker als verbindlich anerkannt und damit zu ihrem „common ground“ geworden ist: „Psychoanalyse ist der Name 1) eines Verfahrens zur Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2) einer Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Einsichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammenwachsen.“
{Freud, S. (1923a): ‚Libidotheorie’; ‚Psychoanalyse’. GW 13: 211-233, S. 211.} War Freud zunächst auch von Phänomenen ausgegangen, die er als psychische Störungen erkannt hatte, so beanspruchte er schließlich, eine Theorie des Seelenlebens schlechthin – also auch des so genannten „gesunden“ – entwickelt zu haben und der Begründer einer neuen Wissenschaft zu sein. Die therapeutische Anwendung der Psychoanalyse hielt Freud nicht für seinen bedeutendsten Beitrag. Er schrieb: „Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt. Als Therapie ist sie eine unter vielen, freilich eine prima inter pares.“
{Freud, S. (1933a): Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW 15, S. 169.} Freud war zu seinen Einsichten gekommen, weil er die traditionellen Werte und Lebensformen, die Stabilität und Reife verheißen, in Frage stellte und die in den Subjekten und in der Gesellschaft mächtigen, scheinbar stabilen Dichotomien von gut/böse, schön/hässlich, krank/gesund, normal/abnorm für seine Forschungsarbeit suspendierte. Er setzte diese Kategorien nicht als selbstverständlich voraus, sondern er analysierte ihre Genese. Damit konnte er den Bereich der Wissenschaft entscheidend erweitern und die Macht von Magie und Religion deutlich zurückdrängen. Das sei, wie Otto Fenichel schrieb, die wesentliche Ursache dafür gewesen, dass die Psychoanalyse von Seiten der sie umgebenden Öffentlichkeit auf andere Quantitäten und Qualitäten von Widerstand stieß, als andere neue Wissenschaften. Freud habe nämlich die psychische Wirklichkeit ebenso vorbehaltlos untersucht, wie er gelernt hatte, physische Vorgänge zu erforschen: „Dabei konnte er Sachverhalte sehen, die, obzwar sie vor aller Augen liegen, bis dahin nicht gesehen worden waren, z. B. die infantile Sexualität“, schrieb Fenichel.
{O. Fenichel: 119 Rundbriefe. Frankfurt am Main: Stroemfeld Verlag 1998; S. 922.} So gesehen hatte Freuds Psychoanalyse einen wesentlichen Anteil an jener liberalen Denkweise, jener allgemeinen Kulturrichtung, die gegen religiöse Vorurteile, aber auch gegen einen Materialismus, der die tatsächlich existierenden psychischen Erscheinungen leugnet, die Ideale des Primats der Vernunft und der vorurteilslosen Untersuchung der Wirklichkeit setzt. Auch alle heute modernen, pseudorationalen, ihren Anhängern Glück versprechenden Ideologien sind daher der Psychoanalyse gegenüber, die ihre Allmachtsansprüche einer rationalen Kritik unterzieht, weiterhin feindlich eingestellt. Diese Ideologien beziehen ihre verführerische Macht nicht zuletzt daraus, dass Menschen hilfloser geboren werden als andere Säugetiere und erfahren haben, dass ihnen in Zuständen von Angst und Hilflosigkeit eine allmächtig scheinende Macht in der Außenwelt zur Hilfe kommt. Es sind das Heilungsversuche, die das ursprüngliche, unheilbare Trauma, die Not der hilflosen Vereinzelung, aufzuheben scheinen, eine Not, die dann aber umso heftiger auf kollektiver Ebene wiederkehren wird. Jede Form von psychoanalytischer Arbeit aber ist dadurch gekennzeichnet, dass sie auf einem grundsätzlichen Machtverzicht und auf der Anerkennung der Subjekte als Subjekt beruht.
Seelische Regungen sollen immer wieder normalisiert, einem status quo integriert werden, seelische Regungen, aus denen Erkennen hervorgehen könnte, befreiendes Erkennen für die Subjekte in der psychoanalytischen Kur und die Botschaft der Befreiung, ja der Revolte, als die die psychoanalytische Entdeckung von Anfang an begriffen worden war. Psychoanalyse ist für die Wissenschaften vom Menschen aber nur dann das Zeichen einer Befreiung, die jener vergleichbar ist, welche eine geglückte Individualanalyse herbeiführen kann, wenn sie am Extremen ihrer Formulierungen und an der Paradoxie festhält. „Diesen Wandel kann das Subjekt, selbst wenn es ihn nicht leugnet, nicht lokalisieren“, schrieb Jean Bertrand Pontalis im Vorwort zu seinem Buch „Nach Freud“. Und: „So ergeht es auch uns, wenn wir spüren, daß wir, nun aber im positiven Sinn des Begriffs, nach Freud leben: etwas hat gesprochen und kann nicht mehr zum Schweigen gebracht werden...Ein Zuhören ist uns übereignet, ein Zuhören, das sich eher dem Ungesagten, eher jenem, das sich anders sagte, zuwandte, als einem Lärm, der der Stille gleicht.“
{Pontalis, J.-B. (1965): Nach Freud. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1968.} Und Jean Laplanche schrieb: „Die Enthüllung des Unbewußten, die Aufdeckung der Allgegenwärtigkeit der Sexualität und ihrer nicht minder gegenwärtigen Unterdrückung, die Begründung einer Therapie, die den Sexualtrieb aus seinen verschobenen, entstellten und ‚entfremdeten’ symptomatischen Äußerungen lösen will, konnten nur als direkter Angriff auf die herrschende Moral, deren stärkste Bastion die ‚kulturelle Sexualmoral’ war, interpretiert werden. Andererseits mündete die Freudsche Theorie, selbst wenn die psychoanalytische Praxis ausschließlich auf das Individuum beschränkt blieb, unmittelbar in den Bereich der sozialen Strukturen, Institutionen und Ideologien.“
{Laplanche, J. (1969): Marcuse und die Psychoanalyse. Berlin: Merve Verlag 1970.} Angst verursacht Hemmungen des Denkens, sie fördert den Abwehrmechanismus der Verleugnung, durch den eine durchaus bewusst erkannte Wahrheit nicht ins Bewusstsein integriert werden kann oder aus ihm wieder ausgeschlossen werden muss. Die Beschäftigung mit dem Unbewussten aber ist vom Unvorhersehbaren gekennzeichnet und darf nicht als abgeschlossenes, fixiertes Wissen missverstanden werden. In der Idealisierung von scheinbar fixiertem Wissen ist eine Negation des Unbewussten zu erkennen, das in einer Situation
des Nach in Gefahr kommt, wieder verkannt zu werden und sich wieder zu verschließen. Freud hatte daher angenommen, dass seine Entdeckung einer ständigen Bedrohung von außen wie auch von innen ausgesetzt sein würde. Seinen Nachfolgern, den Psychoanalytikern, misstraute er nicht weniger als der Kultur im Allgemeinen. Er sah eine Entstellung, Ausdünnung und Zerstörung der Psychoanalyse durch die Gesellschaft aber auch durch seine Nachfolger voraus, die auf Grund des allen Menschen inhärenten Widerstandes die beängstigenden Wahrheiten, die er aufgedeckt hatte, nicht ertragen. Deutlich wird dies etwa an den schier unaufhörlichen Kontroversen um Freuds Triebtheorie, die trotz aller Anstrengungen noch immer nicht abgeschafft und zum Verschwinden gebracht werden konnte.
Mit der 1910 gegründeten Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung wollte Freud dem Missbrauchen der Psychoanalyse vorbeugen. Er schrieb: „Es sollte eine Stelle geben, welcher die Erklärung zustände: Mit all dem Unsinn hat die Analyse nichts zu tun, das ist nicht die Psychoanalyse.“
{Freud, S. (1914d): Zur Geschichte der Psychoanalytischen Bewegung. G. W. Bd. X : 43-113, S. 85.} Im Anschluss an die Gründung der IPV wurden in aller Welt psychoanalytische Ortsgruppen gebildet. Freud musste aber die Erfahrung machen, dass er sich in seiner Hoffnung getäuscht hatte, dass diese sich von ihm den Weg leiten lassen würden. War er von allem Anfang an von seinen Gegnern wegen seiner so genannten Überschätzung der Bedeutung der Sexualität im Seelenleben des Menschen angegriffen und verleumdet worden, so musste er nun die dieselbe Ablehnung auch von vielen erleben, die für eine Zeit mit ihm verbunden gewesen waren. Adler und Jung waren ja nur die Ersten.
In der Anna-Freud-Sammlung im Archiv der Library of Congress in Washington fand ich einen Brief, den der Schweizer Psychoanalytiker Philipp Sarasin im Februar 1946 an Anna Freud geschrieben hatte. Es war zu der Zeit, in der nach der Unterbrechung während des Zweiten Weltkriegs die Internationale Psychoanalytische Vereinigung ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte. Sarasin schrieb: „Sehr verehrtes, liebes Fräulein Freud […] Was die IPV und die Psychoanalyse anbetrifft, so scheint mir dies am wichtigsten zu sein, dass Herr Professor [Freud] nicht mehr unter den Lebenden weilt. Sein Lebenswerk liegt nun als abgeschlossenes Ganzes vor uns. […] Die IPV hat die Aufgabe, das Vermächtnis FREUD’S an die nächste Generation weiter zu geben. Es wird dabei aber nicht zu ändern sein, dass sich die Psychoanalyse in jedem denkenden Kopfe etwas anderes widerspiegelt. Diese vielen Fassetten werden aber dann erst das ganze Werk von FREUD ausmachen. Den Grund-Gedanken müssen wir aber dabei festhalten und dies ist die Konzeption von der
infantilen Sexualität. Diese Auffassung scheint mir dann die Möglichkeit zu geben, die innere Einheit der IPV zu wahren, obwohl sie sich in kleinere Einzelgruppen aufsplittert.“
{Ph. Sarasin an A. Freud, Brief vom 11. 2. 1946; Original: Anna-Freud-Papers in der Library of Congress, Washington.} So gesehen ging und geht also wieder und immer noch – außerhalb, aber längst auch innerhalb der organisierten Psychoanalyse – um Freuds Sexualtheorie, um die Erkenntnis, dass im Unbewussten des Menschen Sexualität die entscheidende Rolle spielt, in einem Unbewussten, das, wie Jean Laplanche schrieb „irrémédiablement sexuel“ ist.
{Laplanche, J. (2006): L’après-coup. Problématique VI. Paris: PUF, S. 6.} Laplanche fasste die Psychoanalyse zunächst und vor allem als eine Theorie der Sexualität des Menschen auf oder, exakter gesagt, als
die Theorie der menschlichen Sexualität. Sexualität ist demnach nicht ein mehr oder weniger beliebiges Objekt unter anderen, sondern strukturiert und durchquert alle menschlichen Verhaltensformen. Sie ist sowohl für das Leben des Individuums wie auch für die Gesellschaft und die Kultur von zentraler Bedeutung. Die grundlegende Freudsche Entdeckung, deren anthropologische Konsequenzen Laplanche erforschen wollte, liegt darin, dass die Sexualität des Menschen in Form der so genannten
infantile Sexualität bereits vor der Reifung der endokrinen Drüsen, also vor der Pubertät, wirksam wird. Demnach kommt der Sexualität im Leben des Menschen die außerordentliche, zentrale Bedeutung deshalb zu, weil sich das menschliche Wesen auf Grund der ihm eigenen Art von Sexualität von der biologischen Ordnung emanzipiert. Ein vor Freud nicht beachteter, im Wesentlichen unbeachtet gebliebener oder jedenfalls nicht bedachter qualitativer Unterschied ist nämlich feststellbar: Menschliche Sexualität – und damit auch das Leben der Menschen – ist der Ausdruck von Verhältnissen, von
Differenzen. Es handelt sich dabei einerseits um die Differenz zwischen dem
Instinkt zur Selbst- oder Lebenserhaltung und
dem der endogen angelegten Sexualität, einer Sexualität, die wiederum durch die Differenz zur
infantilen Sexualität gekennzeichnet ist, und andererseits um die Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem
Anderen. Das wahrhaft revolutionäre von Freuds Erkenntnis die Sexualität betreffend liegt demnach darin, dass er beim Menschen einen, wie beim Tier,
vom Instinkt gesteuerten Aspekt der Sexualität erkannt hat, der, von den Reifungsprozessen des Organismus abhängig, erst mit der Pubertät auftritt, und dass er, ausgehend von der Entdeckung der sexuellen Bedeutung von Symptomen und Träumen, die durch den
Trieb bestimmte infantile Sexualität entdeckt hat, die im Es verankert und jeder direkten Beobachtung unzugänglich ist. Nach Laplanche ist der Sexualtrieb aber kein im Individuum schlummernder Instinkt, der lediglich der Entwicklung bedarf. Im Gegensatz zu der genetisch angelegten, der Fortpflanzung dienenden Instinktsexualität, ist der
Sexualtrieb seiner Ansicht nach nicht biologisch begründetet und auch nicht angeboren, sondern er wird im Verlauf der individuellen Lebensgeschichte erworben und er ist – wie auch das Unbewusste –
intersubjektiv begründet.
Ich schließe meine Bemerkungen mit einem Zitat aus der Festrede, die Thomas Mann zu Freuds 80. Geburtstag am 8. Mai 1936 im Wiener Konzerthaus hielt: „Freud hat zwar gemeint, die Zukunft werde wahrscheinlich urteilen, dass die Bedeutung der Psychoanalyse als Wissenschaft des Unbewussten ihren Wert als Heilmethode weit übertreffe. Aber auch als Wissenschaft des Unbewussten ist sie Heilmethode, überindividuelle Heilmethode, Heilmethode großen Stils. Nehmen Sie es als Dichterutopie, - aber alles in allem ist der Gedanke nicht unsinnig, dass die Auflösung der großen Angst und des großen Hasses, ihre Überwindung durch Herstellung eines ironisch-künstlerischen und dabei nicht notwendigerweise unfrommen Verhältnisses zum Unbewussten einst als der menschheitliche Heileffekt dieser Wissenschaft angesprochen werden könnte. Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein heiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht, die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder draus verschwinden kann. Er infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathetisierung, indem er zum Geschmack am ‚understatement’ erzieht, wie die Engländer sagen, zum lieber untertreibenden als übertreibenden Ausdruck, zur Kultur des mittleren, unaufgeblasenen Wortes, das seine Kraft im Mäßigen sucht … Bescheidenheit – vergessen wir nicht, dass sie von
Bescheid wissen kommt, dass ursprünglich das Wort diesen Sinn führte und erst über ihn den zweiten von modestia, moderatio angenommen hat. Bescheidenheit aus Bescheidwissen – nehmen wir an, dass das die Grundstimmung der heiter ernüchterten Friedenswelt sein wird, die mit herbeizuführen die Wissenschaft vom Unbewussten berufen sein mag.“
{Mann, Th. (1936): Freud und die Zukunft. In: Gesammelte Werke, Bd. IX., Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1960: 478-501, S. 500f.} Gewiss, der Einfluss, den Freud und seine Nachfolger auf den Gang der Geschichte genommen haben, ist bisher recht marginal geblieben. Wir können nur hoffen und es nicht vorher wissen, ob die Menschen im 21. Jahrhundert die Botschaft, die die Freudschen Psychoanalyse ist – nämlich rücksichtslos die Wahrheit über uns selbst ertragen zu lernen – hören und dann endlich bereit sind, ernsthaft an den Grundlagen für eine „heiter ernüchterte Friedenswelt“ zu arbeiten.
In diesem Sinne: Alles Gute dem „Wiener Psychoanalytiker“!