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Leitartikel


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“Meine alten und dreckigen Götter”

Autor/in: Pamela Cooper-White

(13.02.2019)
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Freuds Sprechzimmer ist mit seiner teppichbedeckten Couch ein bekanntes historisches Bild geworden, und bekanntlich war jede andere Oberfläche mit alten archäologischen Figuren beladen. Mit liebevoller Ironie nannte er sie “meine…alten und dreckigen Götter[1].” Diese Figuren stellten für Freud eine Metapher für die Psychoanalyse selbst dar – das Graben nach lang vergrabenen Beweisen für mächtige, aber oft nicht anerkannte Wahrheiten. Dass sie Götter waren, stellt ein noch tieferes Geheimnis dar, das niemals direkt von Freud selbst geklärt wurde, sondern die gleichzeitige Faszination und Abneigung eines neurotischen Symptoms suggeriert.

Freuds beharrlicher Atheismus (er bezeichnete sich selbst als "ganz gottloser Jude[2]") und seine paradoxe, obsessive Rückkehr zum Thema Religion in seinen gesamten kulturellen Schriften sind gut dokumentiert. Weniger bekannt sind jedoch die Einstellungen der Männer - und schließlich auch der Frauen - zur Religion, die sich einmal wöchentlich zu ihm gesellten, um über eine Vielzahl von Implikationen der Psychoanalyse nachzudenken. Der Historiker Peter Gay bemerkte kurz und bündig, dass "Freuds Ansicht von der Religion als Feind, vollständig von der ersten Generation von Psychoanalytikern geteilt wurde[3]". Diese Aussage erschien mir als eine übermäßige Verallgemeinerung, angesichts der Begeisterung der ersten Analytiker für komplexe und weitreichende Diskussionen zu fast jedem denkbaren Themen (Geschichte, Biographie, Anthropologie, Archäologie, Philosophie, Religion über Zeit und Kultur hinweg, und sogar das Paranormale), welches in den Protokollen der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft[4] sowie in veröffentlichten Schriften und Korrespondenz - vor allem von Oskar Pfister, Theodor Reik, Otto Rank und Sabina Spielrein[5] gut dokumentiert ist.


Komplexität in den Ansichten der Wiener Analytikern zur Religion


Mein erster Forschungsansatz lautete: Welche religiösen Themen tauchen in den Diskussionen und Schriften der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft von Freud auf und wie werden sie behandelt? Die primären Quellen bestätigten eine reiche und oft komplexere Sichtweise der Einstellung zur Religion unter Freuds frühen Anhängern, als dies zuvor anerkannt wurde[6]. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Mitglieder nicht nur Freuds psychoanalytisch-anthropologischer Methode der Anwendung ödipaler Interpretationen auf alte rituelle Praktiken (wie bei Totem und Tabu) und der Kritik an den repressiven moralistischen Lehren der österreichischen katholischen Kirche folgten, sondern auch ihre eigenen Gedanken über die positive Rolle der Religion bei der Förderung der für die Zivilisation notwendigen Sublimationen und Kompromissbildungen äußerten. Sie glaubten, dass religiöser Glaube vor Neurosen und sogar vor Suizidalität schützen könnte. Ihr häufiger Korrespondent, der Schweizer Pastor Oskar Pfister, plädierte sogar nachdrücklich für die Psychoanalyse als beste Methode für die Seelsorge, die eine liberale und nicht repressive Version der Religion fördert, die von den Zwängen des moralisierenden Dogmas befreit war.


Antisemitismus und die Rückkehr des Verdrängten

Diese Erkenntnisse wären mehr als ausreichend gewesen, um meine anfängliche Forschungshypothese zu bestätigen. Eine zweite, unerwartete These ist jedoch entstanden, die meiner Meinung nach bedeutungsvoller ist: dass die umgebende Atmosphäre des Antisemitismus noch vor dem offiziellen Aufstieg des Nationalsozialismus in Österreich an der fons et origo der Psychoanalyse steht. Es liegt auf der Hand, dass es reduktionistisch wäre, Antisemitismus als singuläre Ursache zu bezeichnen. Doch mit seinen gewundenen Tentakeln ist er eine der allgegenwärtigsten- und oftmals geleugneten - sozialen Kräfte im Wien des 20. Jahrhunderts und beeinflusste zwangsläufig das Denken von Freuds Kreis in irgendeiner Weise zu durchdringen, sowohl bewusst als auch unbewusst. Interessanterweise, ob aufgrund von Verleugnung oder einem kalkulierten Wunsches gefährliche Gespräche zu unterdrücken, wird in den Protokollen der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft praktisch nie der Antisemitismus als soziales Problem diskutiert; zeitweise scheinen die Mitglieder unkritisch bestimmte pathologisierende Stereotypen über osteuropäische Juden zu akzeptieren (vielleicht sogar als internalisierten Rassismus[7])  - von denen sie selbst nur ein oder zwei Generationen abstammten, aber energisch versucht haben, sich von ihnen zu differenzieren. Der Antisemitismus bildete jedoch ein uraltes Meer des Hasses, in dem die ersten Psychoanalytiker, die fast alle Juden[8] waren, ihr ganzes Leben lang schwimmen mussten. Es bedurfte ständiger Wachsamkeit, um in diesen gefährlichen Gewässern zu überleben, geschweige denn Erfolg zu haben.

Mehr noch als die anderen Themen, die bei den Religionsdiskussionen während der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft ergründet wurden, muss der Antisemitismus als ein "totaler Kontext[9]" erkannt werden, eine unausrottbare, übergreifende Realität, die die Entdeckungen und Erkundungen dieser ersten Analytiker nicht unberührt lassen konnte- und ohne die ihre Vorstellungen, insbesondere in Bezug auf die Religion selbst, nicht vollständig verstanden werden können.

Die jahrelange Erfahrung der ersten Analytiker als "Andere" in der österreichischen Kultur, hatte sicher den Wunsch erweckt, von der Unterseite aus zu analysieren, was unter jeder Oberfläche der menschlichen Psyche und Gesellschaft liegt. Es sollte daher nicht überraschen, dass sich ihre Verdrängungstheorien auf die Zwillingstriebe Sex und Aggression konzentrierten. Diese traten nicht nur als Grundursachen für klinische Neurosefälle auf, sondern waren auch Kennzeichen der dominanten Wiener Kultur. Sex und Aggression erschienen immer wieder als kulturelle "Rückkehr des Verdrängten"; (welche subversive expressionistische Künstler so offen dargestellten) - ein Miasma des Verfalls, das von den großen pseudo-historischen Fassaden der Ringstraße ausging. Wie ich in Old and Dirty Gods schrieb,

Das Unheimliche erscheint überall und nirgendwo im Wien des Fin-de-Siècle. Junge Mädchen, in jungfräulichem Weiß gekleidet, debütieren bei den schwindelerregenden Januarwalzern, während Schnitzlers „süße Mädchen[10]“ überlebten, indem sie die Väter der vorher genannten in Hinterhofzimmern unterhielten. Regierungspositionen und aristokratische Titel wurden durch Geschäfte in Hinterzimmer vergeben. Sex und Macht, Ausbeutung und Gewalt wurden geleugnet und verborgen wie die Aktkörper, die Gustav Klimt malte, und dann mit kunstvollen geometrischen Mustern bedeckte. Das Verdrängte in Wien war ein offenes Geheimnis. Und unter der behutsamen Gemütlichkeit, die jeden wie einen Aristokrat erscheinen ließ, wurden die Juden zum Aufbewahrungsort für Projektionen der heidnischen Österreicher über ihren Neid, ihre Gier und sexuellen Hunger. Wien brannte von innen heraus mit dem Fieber seiner eigenen hysterischen Widersprüche[11].

Freuds Judentum wurde bereits gut als dynamischer Faktor für die Entwicklung der Psychoanalyse untersucht [12]. Doch das Judentum an sich ist nicht identisch mit Antisemitismus. Der sehr lange Schatten des Antisemitismus selbst, als ständiges Umfeld der Unterwerfung, muss auch als Katalysator in den Ursprüngen der psychoanalytischen Theorie und Praxis angesiedelt sein –sowohl im Hinblick auf das, was die ersten Analytiker sahen (was niemand sonst sah), als auch auf das, was sie nicht sahen (oder zumindest vorgezogen, es nicht schriftlich aufzuzeichnen). Ihre grundlegende Erkenntnis - dass es immer mehr unter den oberflächigen Erscheinungen der Realität gibt, und dass dieses „mehr“ unter anderem affektiv, erinnerungsgeladen und psychologisch ist – kann nicht ohne Grund mit den Erfahrungen der ersten jüdischen Analytiker in ihren Positionen der Marginalität und der chronischen Verfolgung zu tun haben.

Wie die postkoloniale Theorie uns gelehrt hat[13], ist der Blick von den Außenseiten oft schärfer und durchdringender als von der Spitze des Privilegs[14]. Die Juden Österreichs konnten die Sprache und Kultur sowohl der Unterdrückten als auch der Unterdrücker sprechen und verstehen, und waren angehalten, sich durch die Linse der dominanten Kultur zu sehen und zu beurteilen. In seinem Kulturschock bei seinem ersten Besuch in der Mittwoch-Gesellschaft erlebte der berühmte Schweizer Psychiater C.G. Jung die Wiener Analysten als raffiniert und sogar „zynisch[15]“, aber in ihrem eigenen Kontext war dies das Resultat dessen, was aus der Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche Dynamik, in die sie hineingeboren wurden, entstanden war. Es wurde ein fester Bestandteil des Überlebens in einem feindlichen Klima. Der Gesamtzusammenhang des Antisemitismus und die Bemühungen der ersten Analytiker, sich seiner durchdringenden Logik der Verunglimpfung zu widersetzen, informierten und formten ihre ethischen Empfindungen, und führten zu einer Vision von sozialer Gerechtigkeit, die am stärksten in den 1920er Jahren entstand, als sich viele der jüngeren zweiten Generation Wiener Analytikern an den sozialen Reformen des „Roten Wiens" beteiligten – darunter auch Anna Freud selbst[16].

Die Sehnsucht nach Akzeptanz und Assimilation war eine psychische Kraft, die manchmal sowohl Verleugnung als auch Hoffnung hervorrief. Realismus und das Wissen um die Gefahr waren eine Gegenkraft. Die erste - die assimilierte Geschichte, dass die Psychoanalyse eine westliche Wissenschaft ist – ist die am häufigsten erzählte Geschichte. Letzteres, wie Freud in seinem Essay „Das Unheimliche[17]“ schrieb, ist die unheimliche Wahrheit des Traumas - oder, anders ausgedrückt, des subversiven Wissens der Unterdrückten, das immer wieder verschleiert zurückkehrt, aber niemals ganz verdrängt bleiben kann. Daher musste der Antisemitismus unauslöschliche Auswirkungen gehabt haben, nicht nur auf ihr persönliches und berufliches Leben und ihre Ambitionen, sondern auch auf die psychoanalytische Theorie.

 

[1] Brief von Freud an Wilhelm Fließ, 1. August 1889 (Masson 1985:363), Für eine Übersicht siehe Lynn Gamwell und Richard Wells, Sigmund Freud and Art: His Personal Collection of Antiquities (Binghamton, NY: SUNY Press/London: Freud Museum).  In seiner Einführung in sein Werk warnt Peter Gray „Wir haben noch nicht die volle Bedeutung von Freuds Antiquitäten für ihn verstanden, obwohl diese Ansammlung von Objekten uns dabei hilft, bedeutende Fortschritte in Richtung eines solchen Verständnisses zu machen… Diese kleinen Objekte bedeuteten ihm viel…. Obwohl wir manchmal, wenn wir Freud analysieren und seine Antiquitäten mit so vielen chirurgische Messer sezieren, um seine Geheimnisse zu erforschen, sollten wir uns vielleicht an die schiere Freude erinnern, die er an diesen Stücken hatte. Manchmal ist eine Statue nur eine Statue.“ (Ibid., p. 19) Cf., Gay, Freud: A Life for Our Time (New York: W.W. Norton, 2006), pp. 170-173: “Seine Antiquitäten schienen ihn an eine verlorene Welt zu erinnern, in die er und sein Volk, die Juden, ihre entfernten Wurzeln zurückverfolgen konnten.“ (Ibid., p. 172) Freud soll dem Wolfsmenschen erzählt haben, dass sie ihm auch an den gesamten Prozess der Psychoanalyse als archäologische Ausgrabung der psychischen Tiefen jedes Patienten erinnern. (Ibid., p. 171) [N.T. Das Vorwort wurde vom DWP übersetzt]
[2] Brief von Freud an Oskar Pfister, 9. Oktober 1918, in Isabelle Noth (Ed.), Sigmund Freud – Oskar Pfister Briefwechsel 1909-1939 (Zürich: Theologischer Verlag, 2014), p. 105.
[3] Gay, 2006: 533.
[4] Herman Nunberg und Ernst Federn (Eds.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. I-IV (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1976-1981; Neuausgabe: Gießen: Psychosozial-Verlag, 2007).
[5] Ausführlich in Pamela Cooper-White, Old and Dirty Gods: Religion, Antisemitism, and the Origins of Psychoanalysis (London: Routledge, 2017), Chapters 3-6, pp. 91-214.
[6] Details in ibid., Chapter 2, pp. 56-89.
[7] Eine Diskussion zu dieser Frage, siehe ibid., 69-81.
[8] Elke Mühlleitner und Johannes Reichmayr, “Following Freud in Vienna,” International Forum of Psychoanalysis 6 (1997):85-88.
[9] Begriff aus der Soziolinguistik und Anthropologie, als allumfassende Umgehung einer Kultur, ihrer Praktiken und Sprache(n), die im subjektiven Bewusstsein des Einzelnen nur teilweise auftauchen kann.
[10] Ein Begriff, der am häufigsten mit den Werken von Arthur Schnitzler in Verbindung gebracht wird. Er bezieht sich auf junge Frauen, die reiche städtische Männer mit sexueller Unterhaltung im Austausch für wirtschaftliche Unterstützung versorgten. Diese Vereinbarung wurde im Wiener Fin de Siècle stillschweigend toleriert.
[11] Cooper-White, 2017, p. 219.
[12] Für eine Übersicht der Literatur über den Einfluss des Judentums auf die Psychoanalyse, siehe ibid., pp. 235-238; re: the early analysts’ attitudes toward Judaism and Jewish identity, siehe auch pp. 68-81.
[13] Die postkoloniale Literatur ist umfangreich und wächst weiter. Ein klassischer Text ist Homi Bhabha, The Location of Culture (London: Routledge, 1994).  Siehe auch Edward Said, Freud and the Non-European (London: Verso/Freud Museum, 2003).  Said liest Freud’s Moses and Monotheism durch eine postkoloniale Linse in Bezug mit Bezug auf den Israeli-Palestinian Konflikt.
[14] Contra Gay, A Godless Jew: Freud, Atheism and the Making of Psychoanalysis (New Haven, CT: Yale University Press, 1987):146-147. Zeitgenössische Historiker der Psychoanalyse haben den Begriff "optimale Marginalität" verwendet, um die Schärfe und das schöpferische Genie aus einem Randstatus zu beschreiben, die in der Psychoanalyse von Freud bis zur Gegenwart entstanden sind - zusammengefasst in Lewis Aron und Karen Starr, A Psychotherapy for the People: Toward a Progressive Psychoanalysis (New York: Routledge, 2013):8-9, 29 et passim.
[15] Deirdre Bair, Jung: A Biography (Boston: Little, Brown, 2003), p. 118.
[16] Für mehr zu den frühen Psychoanalytikern und das “Rote Wien”, siehe Cooper-White, 2017, pp. 240-243; Eli Zaretsky, Secrets of the Soul: A Social and Cultural History of Psychoanalysis (New York: Knopf, 2004), pp. 220-225.
[17] Sigmund Freud, “Das Unheimliche” (1919), Gesammelte Werke XII, (London: Imago Publ., 2005), pp. 229-268.

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