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Leitartikel


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(Werden Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich in der männlichen oder weiblichen Form verwendet, so schließt dies das jeweils andere Geschlecht mit ein.)

Die Muttersprache als Sprache der Emotionen

Autor/in: Jorge Luis Rios

(30.01.2019)
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Ein transkultureller, psychoanalytischer Essay für Migranten.

Die Wurzel meines Interesses an der transkulturellen Psychoanalyse ist wahrscheinlich in meiner eigenen Herkunftsgeschichte verankert, umso stärker wurde dieses Interesse, als ich mit Patienten an der Ambulanz der Sigmund Freud Universität und später in meiner eigenen Praxis zu arbeiten begann. Damals, an der Ambulanz, beobachtete ich das Phänomen, dass sich viele Patienten nach Psychotherapie in der eigenen Muttersprache sehnten, obwohl sie die deutsche Sprache gut beherrschten. Dieses Phänomen bekam eine neue Dimension, als einzelne Patienten Psychotherapie in Deutsch bevorzugten, obwohl sie diese Sprache nicht gut sprechen konnten.

Ich versuchte die Dynamik des Phänomens Muttersprache zu verstehen, sowohl als Sprache der Wahl als auch als Widerstand in der psychoanalytischen Psychotherapie. Nun möchte ich mit diesem Essay das Phänomen der Muttersprache in der Therapie darstellen und mich dabei auf meine bisherige Erfahrung beziehen, sowohl als angehender Psychoanalytiker als auch als Analysand. Insbesondere gilt dieser Ansatz für Patienten mit Migrationshintergrund bzw. im interkulturellen Kontext.


„Die Muttersprache ist die Sprache der Emotionen“

Freud (1905c) betrachtet die Primärsprache bzw. erste Sprache als die Sprache des Es. Diese Primärsprache - die ich von nun an als Muttersprache [Muttersprache als die Sprache, die die erste Bezugsperson mit dem Kind spricht und die das Kind zuerst lernt. Und auch als die Sprache, mit der sich das Kind identifiziert] bezeichnen werde – ist mit den frühen Erlebnissen des Kindes eng verwurzelt, weil diese Erlebnisse dementsprechend in der frühesten emotionalen, kognitiven und sensomotorischen Entwicklung eingebettet waren. In anderen Worten: Wenn die Muttersprache eng in den frühen Erlebnissen verwurzelt ist, könnte man - analytisch gesehen – sagen, dass die Wahl eines Wortes in einer Sprache, bewusst oder unbewusst, von emotionaler Substanz determiniert ist.

Daher ist die Internalisierung einer Sprache und ihrer symbolischen Dimension auf die Bereitschaft des Ichs und die Befriedigung des Es angewiesen. Die Wörter, die wir in uns tragen, sind getränkt von unseren individuellen emotionalen und kognitiven Erlebnissen im Zusammenhang mit ihrer inhaltlichen Bedeutung (vgl. Bouville 2018).

Aus meiner Sicht ist die emotionale Bedeutung der Grund, weshalb viele Patienten eine unausgesprochene, nie erzählte Geschichte erst in der entsprechenden Muttersprache aussprechen. Traumatische Erlebnisse - wie Verfolgung, Folter und Missbrauch – werden erneut erinnert und können durch die Emotionalität der Muttersprache, die eine sehnsüchtige Verbindung nach den primären Liebesobjekten herstellt, ausgesprochen werden. Je nach individueller Geschichte und Internalisierung der Bezugsobjekte, wird die Emotionalität der Muttersprache unterschiedlich geprägt.

Meines Erachtens ist das der Grund, weswegen sich auch viele Patienten weigern, ihre eigene Muttersprache für die Therapie zu wählen. Die Muttersprache kann sowohl von Liebe als auch von Hass bestimmt sein. Das Wort an sich ist der Ausdruck, bewusst oder unbewusst, einer Kette subjektiver Bedeutungen bzw. - á la Lacan – Signifikanten, in denen sich eine Botschaft ausgedrückt, verschleiert oder zum Verschwinden gebracht wird.

Eine später erlernte Sprache ist an reifere Entwicklungsstadien gekoppelt, unsere Beziehung zu dieser Sprache wird von vorherein durch das Über-Ich geprägt. Für manche Patienten ist jedoch das an die erste Sprache gebundene Über-Ich so prohibitiv, dass die „Es-Antriebe“ erst in der toleranten Atmosphäre des neuen Über-Ichs der zweiten Sprache zugänglich sind (vgl. Krapf 1955).

Eine meiner Patientinnen hatte große Schwierigkeiten ihre Emotionen wahrzunehmen bzw. auszudrücken. Die Beziehung zu ihrer Familie und zum Herkunftsland war voller Verbote und mit Gewalt besetzt. Sie sagte, dass sie nichts fühle, und daher könne sie nicht über Gefühle sprechen. Viele Monate arbeiteten wir an ihrer Mentalisierungsfähigkeit, bis sie eines Tages Gedichte mit in die Stunde brachte. Gedichte, die sie selber schrieb und mir überreichte. Zu meiner Überraschung waren alle Gedichte auf Englisch geschrieben.

Ihre Gedichte waren sehr schön und sie drückten gleichzeitig extreme Emotionalität aus. Ihre Ängste, Schmerzen, Illusionen, Liebes- und Hassgefühle waren sehr präsent, man konnte sie spüren. Die Patientin konnte ihre Gefühle - im therapeutischen Raum - weiterhin nicht aussprechen, dennoch lernte sie, Gefühle über ihre Gedichte auszudrücken. Ihre Gedichte sind bis heute Hauptdarsteller ihrer Therapie geworden und konnten für die Förderung ihrer Mentalisierungsfähigkeit benutzt werden. Dennoch war das erst der erste Schritt, damit sie später ihre Emotionen durch die Sprache verbalisieren konnte. Diese Patientin hat im Laufe der Therapie gelernt, Wut und Freude auszusprechen, allerdings verwendet sie nun - um ihre Emotionen auszudrücken - Wörter in ihrer Muttersprache, die Arabisch ist.

Die neuen Sprachen ermöglichen eine Distanzierung von den emotionalen Besetzungen in der Muttersprache. Die neue Sprache scheint so von den Belastungen der Muttersprache befreit zu sein. Die emotionale Eröffnung dieser neuen Wörter sollte durch den analytischen Prozess stattfinden. Was bereits verdrängt war, scheint umso mehr zu verschwinden, wird aber durch die neue Sprache nur vorübergehend tiefer begraben. In seinen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Muttersprache, Fremdsprache und Abgewehrtem geht Greenson davon aus, dass beide Sprache deutlich voneinander getrennt sind, und dass jede Sprache an spezifische Affekte bzw. psychische Mechanismen gebunden ist. Die fremde Sprache verhilft, „inzestuöse Erinnerungen und Gefühle zu verdrängen, die in der Muttersprache zugänglicher wären“ (zit. nach Greenson 1982, S.20).

Noch ein klassisches Beispiel zu dem vorher Erwähnten ist der Fall Anna O., die temporär nur noch Englisch sprach. Freud deutete die Verbannung der deutschen Muttersprache als Symptom verdrängter sexueller Wünsche.


Migration und Sprache

Migranten erleben einen massiven Objektverlust, der eine psychische Krise auslösen kann. Man muss sich vorstellen, dass von einem Tag auf den anderen das Vertraute, wie die Sprache, Kultur und Umgebung, verschwindet bzw. ein anderes wird – also die neue Realität ist fremd.

Der argentinische Psychoanalytiker Cesar Garza Guerrero (1974) bezeichnet die Migrationskrise als „Culture Shock“. In seinem Modell zur Darstellung der Migrationskrise lehnt er sich an den Trauerprozess an. Wenn sich ein Verlust aller oder sehr vieler Objekte, die an die Libido gebunden sind, vollzieht, kann die Identität des Subjekts gefährdet sein. Der Trauerprozess führt zur Neugestaltung der inneren Objektbeziehungen unter dem Einfluss der neuen Gesellschaft und des Selbst-Konzepts auf der Basis von neuen Erfahrungen mit der neuen Umwelt. Wenn dieser Trauerprozess nicht bewältigt wird, kann es zu Depressionen, psychosomatischen Erkrankungen, Identitätskrisen und paranoiden Reaktionen kommen. Die Migranten sehnen sich nach einer „Klarheit“ über ihre gegenwärtigen Vorstellungen und Veränderungen. Wichtig ist, dass darüber gedacht, gesprochen und fantasiert wird, dass innere Bilder entstehen, die helfen zu klären, was man möchte und kann (Kronsteiner 2002).  

In Begegnung mit Migranten lässt sich lernen, dass das Erlernen der hiesigen Sprache den Grundstein einer möglichen Integration legt. Weniger bekannt ist der Einfluss, den die bewusste und vor allem die unbewusste Bereitschaft zur Aufnahme der neuen Sprache haben, und wie sie das Erleben determinieren. Es gibt keine objektive Wahrnehmung von Wörtern. Sie werden immer mit den Erinnerungsspuren wahrgenommen, die sie begleiten. Im Falle der deutschen Sprache korrelieren die Deutschkenntnisse von Migranten nicht mit der Aufenthaltsdauer, sondern mit der Qualität der Beziehungen zu Aufnehmenden.


Die Erschaffung eines analytischen intersubjektiven Raums

„Was gesagt wird oder nicht gesagt wird, was geschieht oder nicht geschieht, alles ist eingebunden in ein intersubjektives System“ (zit. nach Stolorow 1996, S.5).

Aus einer intersubjektiven Perspektive steht Beziehung und Bezogenheit zwischen zwei Subjekten im Vordergrund der Beobachtung, des Erlebens und der Reflexion. An die Stelle des Patienten als Objekt der Behandlung durch einen außenstehenden Therapeuten rückte mehr und mehr das analytische Paar, das in der Begegnung eine neue Wirklichkeit erschafft. Aus dieser Sicht ist die Entwicklung des Patienten in der Analyse das Ergebnis einer Begegnung, in der beide Beteiligte, Analysand und Analytiker, aufeinander Einfluss nehmen und sich in gewisser Weise auch verändern. Somit ist die intrapsychische Entwicklung des Patienten eine Funktion der Begegnung, die nicht ohne den Einschluss des Analytikers erreicht werden kann (vgl. Ermann 2014).

Mir ist hier sehr wichtig zu betonen, wie wesentlich die Erschaffung eines intersubjektiven Feldes im analytischen Prozess ist, in dem die Begegnung von zwei Kulturen und zwei Subjekten realisiert wird. Dieses neue Feld ermöglicht einem interkulturellen Austausch, in dem der Analytiker eine Neugier für die kulturellen Grundlagen interkulturell entwickelt. In der Begegnung ist die „Muttersprache“ oder die „Fremdsprache“ eine die von beiden Beteiligten in ihrer Bedeutung erschlossen wird.

Nun geht hier es nicht nur allein um die Sprache, sondern um die unbewusste historische Dimension eines Patienten und in gewisser Hinsicht auch um die des Analytikers. Zusätzlich braucht es einen interkulturellen Austausch, und dafür hat entweder der Analytiker die Selbsterfahrung in der Kultur der entsprechenden Muttersprache gemacht oder entwickelt eine Neugier für die Entdeckung einer neuen Kultur im Rahmen des analytischen Prozesses.

In so einem intersubjektiven Feld, das den interkulturellen Austausch fördert, bewegen sich sowohl Analytiker als auch Analysand in fremdem Territorium, was wiederum die Neugier nährt und die Begegnung zwischen zwei Kulturen und zwei Subjekten bereichert.

 
Literatur:

- BOUVILLE, V. (2018): Zur Bedeutng der Wahl einer Sprache. Psyche – Z Psychoanal 72, 459-462.
- ERMANN, M. (2014): Der Andere in der Psychoanalyse. Die intersubjektive Wende. W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart.
- FREUD, S. (1905c): Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. GW 6.
- GARZA GUERRERO, C. (1974): Culture Shock. It’s Mourning and the Vicissitudes of Identity. In: Journal of the American Psychoanalytical Association Bd. 22(1).
- GREENSON, R. R. (1982): Die Muttersprache und die Mutter. In: Ders.: Psychoanalytische Erkundungen. Übers. H. Weller. Sttutgart (Klett-Cotta), 13-24.
- KRAPF, E. E. (1955): Über die Sprachwahl in der Psychoanalyse von Polyglotten. Psyche – Z Psychoanal 9, 401-413.
- KRONSTEINER, R. (2002): Migration und Exil: soziokulturelle Bindungen und Brüche – Übergänge in ethnotherapeutischen Beziehungen. In: MEHTA, G./RÜCKERT; K.(Hg.): Bindungen/ Brüche/ Übergänge. Beziehungen und ihre Veränderungen in unterschiedlichen Lebensphasen,. Wien.
- STOLOROW RD, BRANDCHAFT B, ATWOOD GE (1987): Psychoanalytische Behandlung. Fischer, Frankfurt a.M. 1996.

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