Psychoanalyse: Eine fremde Disziplin (Teil II)
Autor/in: Dany Nobus / Sabrina Zehetner (DWP)
In Teil II spricht Dany Nobus über die Bloomsbury Group, die psychoanalytische Tradition (oder deren Abwesenheit) im Vereinigten Königreich, Shakespeare und den Status quo der psychischen Gesundheitsversorgung. Wann kam die Psychoanalyse nach Großbritannien?Dany Nobus: Die Psychoanalyse als Theorie wurde bereits vor dem 1. Weltkrieg in den verschiedensten Institutionen und Organisationen aufgegriffen, und noch bevor Ernest Jones die British Psycho-Analytic Society gründete. Diesbezüglich hat Philip Kuhn die Dinge überzeugend ins rechte Licht gerückt, indem er beweisen konnte, dass spirituelle Heiler, Forscher des Übersinnlichen und Psychiater in Heimen sich bereits Mitte der 1890er Jahre mit Freuds Ideen beschäftigten, Jahre bevor Ernest Jones auftauchte. Außerdem rekonstruierte John Forrester, der traurigerweise 2015 verstorben ist, dass renommierte Cambridge-Gelehrte wie Arthur Tansley und W.H.R. Rivers Freud lasen und seine Ideen in ihre Forschungsfelder miteinbezogen - außerhalb jener Gruppen und Aktivitäten, für die Ernest Jones verantwortlich war.
Die Bloomsbury Group hatte eine Affinität zur Psychoanalyse - Warum?Dany Nobus: James Strachey, Lytton Strachey und Alix Strachey (geb. Sargant-Florence) waren Teil der Bloomsbury Group, die ursprünglich eine Studentenverbindung war, bevor sie nach dem 1. Weltkrieg zur literarischen Gruppe wurde. Die Gruppe lässt sich auf eine Cambridge-Studentenverbindung zurückverfolgen, die sich die „Apostles“ nannte, und 1820 gegründet wurde, um die Hegemonie der „anderen“ (z.B. Oxford) bezüglich der Entwicklung des guten englischen kulturellen Geschmacks zu untergraben. Sie waren also bereits Mitglieder einer recht etablierten kulturellen, literarischen Gruppe. Leonard und Virginia Woolf begannen sich im Zuge dessen für die Psychoanalyse zu interessieren. Ich denke, dass die Stracheys eine Art Katalysator waren. In London hatte Freud viele Besucher, darunter auch Virginia und Leonard Woolf. Es heißt, dass Virginia Woolf ihn nicht besuchen wollte, und dass Leonard, der sehr viel enthusiastischer war, was die Psychoanalyse und Freud betraf, sie überredete. Wenn man sich in den 1920er und 1930er Jahren für eine literarische Karriere in der Tradition der modernistischen Bewegung entschied, kam man zwangsläufig in Kontakt mit Freud und der Psychoanalyse. Sie war Teil der Atmosphäre, die man damals aufsog. Auf Grund dieser Affinität war Leonard Woolf mehr als froh darüber, dass sein Verlagshaus „Hogarth Press“ psychoanalytische Werke veröffentlichen konnte.
Ich denke, dass Virginia Woolf als Autorin den Sinn für das Geheimnisvolle beibehalten wollte, oder die Fähigkeit, die Keats als „negative capability“ bezeichnete. Dany Nobus: Ich denke, dass Freud zugestimmt hätte. Es gibt eine Geschichte über eine berühmte ungarische Violinistin namens Maria Thomán, die Freud 1934 kontaktierte, vermutlich, weil sie seine Patientin werden wollte, und Freud antwortete (ich paraphrasiere): Ich wäre bereit das zu machen, aber wenn Sie eine Psychoanalyse machen, dann riskieren Sie Ihre kreative Inspiration als Künstlerin. Dieses Prinzip gilt auch für Schriftsteller. Wenn ein Schriftsteller eine Psychoanalyse beginnt, heißt das nicht, dass sich automatisch neue Inspirationsquellen eröffnen, sondern, dass sie sich vielleicht sogar verschließen, weil er oder sie den Ort und die Funktion der Inspiration entdeckt. Wahre Künstler wissen nicht, woher ihre Inspiration kommt. Wenn man Leonard Cohen gefragt hat, woher er die Inspiration für seine Gedichte und Musik nimmt, antwortete er immer: Aber mein Freund, wenn ich wüsste, woher sie kommt, würde ich dann nicht öfters dorthin gehen?
Das ist im Einklang mit dem, was du gesagt hast. Vielleicht wollte Virginia Freud nicht treffen, weil sie ihre kreative Inspiration nicht riskieren wollte.
Wenn ich mich recht erinnere, haben sich die Bloomsbury Group und Virginia Woolf manchmal lustig über Sigmund Freud gemacht. Virginia Woolf nannte ihn einmal einen “screwed up shrunk very old man” („verkorkster, eingeschrumpfter, sehr alter Mann“).Dany Nobus: Ja, aber paradoxerweise, denke ich, dass Freud das sehr geschätzt hätte. Vielleicht hätte er es sogar mehr geschätzt, als einen weiteren Künstler zu treffen, der ihm die Treue schwört. Freud mochte es, bewundert zu werden, aber gleichzeitig schätzte er es, wenn man ihn nicht zu ernst nahm.
Wurde die Psychoanalyse als fremde Disziplin betrachtet, als sie Großbritannien erreichte?Dany Nobus: Ich denke nicht, dass es in der anglo-amerikanischen Welt eine starke psychosoziale Tradition gibt, Gewissensforschung zu betreiben, oder in sich zu gehen. Es gibt eine lange Tradition von Seelendoktoren und Menschen, die sich in Großbritannien um die Geisteskranken kümmern, aber wenn es um Gewissensforschung geht, bin ich mir nicht sicher, ob eine Tradition existiert. Konträr dazu gibt es im kontinentalen Europa, Südeuropa, Osteuropa und Russland eine viel längere Tradition, sich gegenseitig Geschichten über einander zu erzählen, was per Definition auch Prozesse der Selbstreflexion beinhaltet. Auch wenn wir nicht wissen, ob Homer existert hat (Klassizisten bezeichnen diese Ungewissheit als „Homerische“ Frage), haben wir ein Transkript einer mündlich überlieferten Tradition, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde, und zur Entwicklung eines großen Teils des Sozialgefüges in der antiken Welt beigetragen hat. Trotzdem hat dieses „Geschichtenerzählen“, oder was man eine mündlich überlieferte Mythopoeia bezeichnen könnte, in Großbritannien nie Wurzeln geschlagen. Tatsächlich war eines der ersten Dinge, die mir auffielen, als ich vor fast 25 Jahren in Großbritannien ankam, dass es keine Tradition darin gibt, sich einander Geschichten zu erzählen – nicht nur Geschichten darüber, was anderen Menschen passiert ist, sondern auch, wenn es um den Versuch geht, das eigene menschliche Dasein und seine Repräsentation zu verstehen. Philosophie in Großbritannien ist vordergründig eine analytische Philosophie, die philosophische Probleme in sprachliche und logische Problemstellungen einrahmt, die mathematisch gelöst werden müssen. Die Antwort auf die Frage ist also: Ja. Und weil die Psychoanalyse fremd war – buchstäblich und im übertragenen Sinn – wurde sie zuerst von Spiritualisten und Wunderheilern übernommen, und erst später von der akademischen, wissenschaftlichen Gemeinschaft, und selbst dann mit einer großen Portion Skepsis.
Aber wie passt das zu Shakespeare und seinem treffsicheren Verständnis für die menschliche Natur?Dany Nobus: Ich bin überzeugt, dass man von einem Stück Shakespeares mehr über die menschliche Natur lernen kann als in einem Psychologie-Studium, das drei oder vier Jahre dauert. Wenn man mehr darüber erfahren will, wie Menschen ticken, dann ist ein Psychologie-Studium eine absolute Zeitverschwendung. Ich würde sehr gerne einen Kurs in Psychologie über Shakespeare (Dante, Milton oder Homer) unterrichten, aber ich werde das nie tun dürfen, weil die ehrwürdigen Beschützer des psychologischen Glaubens sagen werden, dass es nicht evidenzbasiert ist, und daher unzulässig. Sie würden sagen, dass Shakespeare Fiktion ist, und dass Psychologiestudenten Fakten lernen sollten. Da es keine wissenschaftliche (experimentelle) Basis für das Gesagte in Shakespeares Stücken gibt, gehört Shakespeare zum
English Department, was absolut lächerlich ist – besonders, wenn man bedenkt, dass die wissenschaftliche (experimentelle) Basis von Psychologen generell auch extrem fragil ist. Ich könnte eine Vielzahl von „Nonsens“ präsentieren, der als Resultat von evidenzbasierter Wissenschaft produziert wurde. Demnach denke ich, dass die Psychoanalyse als Disziplin, die auf Narration und dem Erzählerischen basiert, tatsächlich als sehr seltsam betrachtet wurde; wenn nicht sogar als absolut gefährlich. Und die Zeiten haben sich nicht wirklich geändert.
Wie sehen Sie die Situation der psychischen Gesundheitsversorgung und ihrer Förderung in Großbritannien? Dany Nobus: Psychische Gesundheit und psychische Krankheiten werden primär aus der Perspektive einer biologisch-orientierten Psychiatrie betrachtet, und innerhalb der Grenzen des
National Health Service. Das bedeutet, dass die psychische Gesundheit auf einem zweizinkigen Paradigma fußt: evidenzbasiertem Reduktionismus und kosteneffektivem Liberalismus. Eines davon ist schlimm genug; mit beidem ist eine Katastrophe vorprogrammiert. Und die Tatsache, dass wir heutzutage das dumme Mantra, „Es ist okay, nicht okay zu sein“, haben, macht die Dinge nicht besser oder leichter, denn dahinter steckt das Prinzip, die psychische Gesundheit zu kommerzialisieren. Wenn Sie ein psychisches Problem haben, einen Arzt sehen wollen, und das Glück haben innerhalb von sechs Wochen einen Termin zu bekommen, gibt es zwei Möglichkeiten. Es werden entweder Antidepressiva verschrieben, ohne Rücksicht auf Ihre Verfassung, oder es werden Ihnen zehn Sitzungen Verhaltenstherapie verschrieben, wofür es offensichtlich eine Warteliste gibt. Das Ziel ist, das psychische Problem so schnell wie möglich nach den Prinzipien der 3 E‘s neoliberaler Rationalität (efficiency, effectiveness, economy) zu lösen, und in ein neues, funktionierendes Betriebssystem umzuwandeln, damit man wieder schnell zurück an die Arbeit gehen und zum ökonomischen Produktionsprozess beitragen kann. In anderen Worten wird der Patient als nicht-produktive Einheit wahrgenommen und alle Interventionen sind darauf ausgerichtet die „ökonomische Balance“ wiederherzustellen, nach innen und nach außen. Aber ich denke nicht, dass es sich außerhalb Großbritanniens anders verhält; wenn überhaupt, sind Länder mit geführter Versorgung, in denen Versicherungsträger zum Entscheidungsprozess beitragen, wahrscheinlich schlechter darin, die geeignete Versorgung bereitzustellen.
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