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Leitartikel


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What a piece of work is a man

Autor/in: Sabrina Zehetner (DWP)

(02.01.2019)
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William Shakespeare und Sigmund Freud

“Wo ich auch hingehe, da ist vor mir schon ein Dichter gewesen.” (Sigmund Freud)

Keine Analyse könnte jemals dem Umfang und der literarischen Größe, mit welcher William Shakespeare die Tiefen des menschlichen Daseins illustrierte, gerecht werden. Seinem jambisches Fünfheber, oder Blankvers, wird nachgesagt den Rhythmus des Herzschlags zu imitieren. Der Schlüssel um Shakespeares Werke zu verstehen ist Empathie, denn der berühmte Dramatiker hatte ein umfassendes und einzigartiges Verständnis von der menschlichen Seele – ein Talent, das bei Sigmund Freud auf große Bewunderung, aber auch auf Ambivalenz stieß.

Sigmund Freud begann Shakespeares Werke im zarten Alter von acht Jahren zu lesen und nutzte jede Gelegenheit, ihn in Briefen an Freunde und geliebte Menschen zu zitieren. Es verwundert also nicht, dass William Shakespeares Werke, die seine Theorien durchziehen, einen weitreichenden Einfluss auf Sigmund Freud hatten. Augenscheinlich war Shakespeares „Hamlet“ Freuds Lieblingswerk, welches er als eines der zehn großartigsten Werke der Weltliteratur bezeichnete. In Freuds Analyse zu Hamlet wandte er die Geschichte von Ödipus an, was ihn im Gegenzug zur Formulierung des Ödipuskomplexes verhalf, und ihm durch seine Selbst-Analyse begleitete. Er schreibt in einem Brief an Wilhelm Fließ: „Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit.“ Freud widmete den „Psychopathischen Personen auf der Bühne“ (1905-1906) und der Charakterisierung Hamlets einen ganzen Essay. Zeit seines Lebens kommentierte und zitierte er Shakespeares Werke.

Dennoch wurde Freud mit der Zeit zusehends zurückhaltender mit Bekundungen der Bewunderung für den Dramatiker und seiner intuitiven Fähigkeit jene Aspekte der menschlichen Natur aufzugreifen, die Psychoanalytiker wie Freud nur durch rigorose Analysen zu erfassen schienen. Offen gesagt grenzte Freuds Haltung zu Shakespeare oftmals an offene Feindseligkeit. Sigmund Freuds Ambivalenz und Unbehagen gegenüber Künstlern war kein Geheimnis, obwohl er Geschichtenerzähler als wertvolle Verbündete der Psychoanalytiker bezeichnete.

In Shakespeares Fall wollte er dessen Identität und Autorschaft nicht anerkennen und zweifelte sie mehrmals an, James Stracheys Proteste stießen diesbezüglich auf taube Ohren. Ernest Jones zufolge bestand er zuerst darauf, dass Shakespeare Franzose war, da sein Gesicht nicht das von einem Angelsachsen sein konnte („could not be that of an Anglo-Saxon“, Ernest Jones), und dass sein Name eine Abwandlung von Jacques Pierre sei. Später schrieb er folgende Fußnote in „Abriss der Psychoanalyse“ (1938): „Der Name William Shakespeare ist sehr wahrscheinlich ein Pseudonym, hinter dem sich ein großer Unbekannter verbirgt.“ Letztendlich wurde er Anhänger Looneys bekannter Hypothese, bekannt als die „Oxfordianische“ Position, dass Shakespeare in Wirklichkeit Edward de Vere, der Graf von Oxford, gewesen war, und welche seine späteren Interpretationen zu Shakespeares Stücken prägte. Freud war der Überzeugung, dass Shakespeares Genie nicht als über alle Kritik erhaben betrachtet werden sollte, und fast wie besessen, glaubte er – jedoch nicht wiedernatürlich in Anbetracht seiner Profession – dass Menschen nie so sind wie sie zu sein scheinen.

Was Freud außerordentlich bewunderte, kritisierte er häufig. Trotzdem wurde Freud nicht müde Shakespeares schillernde Darstellungen zu dekodieren und zu rationalisieren – Shakespeares Charaktere verkörperten, Freud analysierte. Es liegt in der Natur von Shakespeares Werken, dass sie dargeboten werden müssen, es genügt nicht sie in Stille zu lesen, da ihre Poesie von inhärent melodischen Charakter und sie für die Bühne gemacht ist. Shakespeare motiviert sein Publikum dazu, Mitgefühl für seine Bühnencharaktere zu empfinden, ihre Tragödien und Freude zu durchleben. Der Dramatiker schaffte es Menschen jeder Gesellschaftsschicht anzusprechen. Ein Shakespeare Stück zu erleben – als Schauspieler, Zuhörer oder Leser, der sich die Sonetten rhythmisch selbst laut vorliest, ist eine recht libidinöse Angelegenheit. Freud tendierte dazu das Lustprinzip jener Künstler abzulehnen und zu kritisieren, die er lobte und im selben Atemzug als Verrückte, Kinder und unrealistische Tagträumer bezeichnete.

Jedoch hat jeder Vers in Shakespeare seinen Zweck und die jambische Struktur folgt einem natürlichen Rhythmus, wenn man sie rezitiert, und eine instinktive emotionale Verbindung herstellt, zu der jeder Zugang findet, der gewillt ist Shakespeares Worte vorurteilsfrei zu ergründen. Shakespeare kam vor Sigmund Freud. Die Psychoanalyse mag über King Lears und Ophelias Wahnsinn, Hamlets Wankelmütigkeit, Othellos Eifersucht und Lady Macbeths schwere Depression theoretisieren. Aber es war Shakespeare, der das menschliche Dasein mit einer Stimme, Rhythmus, Körperlichkeit und universal nachempfindbaren Charakteren ausstattete. Vielleicht hätte Shakespeare Begeisterung für Freuds Meinung zu seinen Werken gezeigt, oder sogar ein Stück über einen seiner größten Bewunderer geschrieben.


Quelle:
Holland, N. N. (1960). Freud on Shakespeare. Publications of the Modern Language Association of America, 163-173.


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