A A A A
Wien, 29.11.2023, 16:43   DEUTSCH / ENGLISH




Angemeldet bleiben



Leitartikel


DER WIENER PSYCHOANALYTIKER möchte nicht nur bereits international etablierten Psychoanalytikern/Innen, sondern auch noch unbekannten Psychoanalytikern/Innen die Gelegenheit geben einen selbstverfassten, bisher noch nicht publizierten Artikel auf der Titelseite unseres Onlinemagazins zu posten!

Im Forum werden dann dazu alle User Stellung nehmen, Fragen formulieren und kommentieren können. Wir wollen dadurch einen bisher so noch nicht dagewesenen, internationalen Gedankenaustausch zwischen Psychoanalyse-Interessierten ermöglichen.
Aktuelle Textsprache ist Deutsch und/oder Englisch.

Bei Interesse, Ihre Zusendungen bitte an:
leitartikel@derwienerpsychoanalytiker.at


(Werden Personenbezeichnungen aus Gründen der besseren Lesbarkeit lediglich in der männlichen oder weiblichen Form verwendet, so schließt dies das jeweils andere Geschlecht mit ein.)

Freuds Selbstversuche mit „Cocain“ im Jahr 1884: Eine Tür zur Psychoanalyse

Autor/in: Anna Lindemann

(24.10.2018)
Teilen:


Fällt der Name Sigmund Freud, denken die meisten Menschen sofort an die Psychoanalyse. Freud war jedoch schon eine interessante Forscherpersönlichkeit, bevor er die Psychoanalyse entwickelt hat. Manche der wesentlichen Schritte, die ihn zur Psychoanalyse geführt haben, hat er bereits bei der Bearbeitung seiner vorherigen Forschungsbereiche wie beispielsweise der Neurophysiologie und Psychopharmakologie gemacht. Von einem dieser Schritte, der die Psychoanalyse ermöglicht hat und in einem gewissen Sinne auch ihren Beginn bezeichnet, möchte ich hier erzählen: Im April 1884, als Freud noch ein junger Assistenzarzt am Wiener Allgemeinen Krankenhaus war, las er von einem neuen Arzneimittel, dem „Cocain“. Dieser wirksame Bestandteil des Coca-Blattes war derzeit gar nicht so neu.

In Reinform war er seit den 1860er Jahren verfügbar. Auch die Erforschung der Coca-Pflanze hatte bereits Tradition. Seit der Invasion Südamerikas durch die Europäer im späten 15. Jahrhundert haben Mediziner und Naturforscher Selbstversuche mit Coca-Blättern durchgeführt. Wie schon die sogenannten Indianer Südamerikas wussten, besaßen die Blätter eine wunderbare Wirkung. Sie machten unempfindlich gegen Hunger, Durst, Müdigkeit, Hitze und Kälte und konnten sogar die Stimmung aufhellen. Cocain und andere Produkte aus Coca-Blättern wurden bis in die 1880er Jahre hinein kaum mit gesundheitlichen Risiken in Verbindung gebracht. Dem Forschungsstand des Jahres 1884 entsprach es, Cocain für geringfügig giftig und für nicht suchterregend zu halten. Cocain galt als harmloses potenzielles Arzneimittel, das in mäßigen Dosen über einen längeren Zeitraum bedenkenlos konsumierbar war (Nothnagel & Rossbach 1884; Husemann 1884).

Ende 1883 beschrieb der Militärarzt Theodor Aschenbrandt, wie er im Rahmen der jährlichen Herbstwaffenübung bairischen Soldaten heimlich Cocain in die Getränke gemischt hatte. Die durch Hitze, Strapazen und verunreinigtes Wasser marode gewordenen Soldaten erholten sich darauf hin und waren imstande, die anstrengenden Übungen und Märsche mitzumachen (Aschenbrandt 1883). Freud las diesen Artikel in einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift und konstatierte später: „Mein Verdienst besteht vielleicht nur darin, dass ich dieser Angabe Glauben schenkte. Dieselbe war für mich der Anlass, die Cocawirkung an der eigenen Person und an Anderen zu studieren(Freud 1885b, S. 49). Bei seinen ersten zwölf Selbstversuchen (Frühling 1884) erfuhr Freud am eigenen Leibe „was man als die wunderbare stimulierende Wirkung der Coca bezeichnet hat. Langanhaltende, intensive geistige oder Muskelarbeit wird ohne Ermüdung verrichtet, Nahrungs- und Schlafbedürfniss, die sonst zu bestimmten Tageszeiten gebieterisch auftreten, sind wie weggewischt(Freud 1884e, S. 300-301). Freud war begeistert und entwickelte eine ganz neue Deutung der Cocainwirkung. Die Coca-Forscher vor Freud waren davon ausgegangen, dass das Wirkspektrum von Cocain dadurch erklärt werden kann, dass es – in Abhängigkeit von der Dosenhöhe – die Nerven erregt oder lähmt. Sie sahen das Cocain also direkt auf die Nerven einwirken. Wie genau diese Interaktion von statten ging, wusste allerdings bis zu Freuds Forscherzeiten niemand. In Freuds neuer Sichtweise ist die physische Cocainwirkung nur eine Folgeerscheinung seiner psychischen Wirkung. Die leistungssteigernde Cocainwirkung ist keine Folge einer direkten Beeinflussung der Nerven, sondern Resultat einer Einwirkung auf Allgemeinbefinden und Stimmung (Freud 1885a, Sp. 133). Die Psyche in der kausalen Wirkkette voranzustellen und die Cocainwirkung primär als psychische Wirkung aufzufassen bedeutet, mit der Lehrmeinung der zeitgenössischen Medizin zu brechen. Dieselbe sieht psychische Phänomene nämlich nur als Epiphänomene physiologischer Prozesse, die keine derart weitreichende materielle (physiologische) Rückwirkung auf den Organismus ausüben können (Reicheneder 1988, S. 173).

Freud hatte seine neue Theorie der Cocainwirkung zunächst rein introspektiv erschlossen. Ende 1884 verifizierte er sie anhand einer neuen Versuchsreihe mit Dynamometer und Neuramöbimeter (Freud 1885a). Freud war der erste, der die leistungssteigernde Cocainwirkung direkt zu messen versuchte. Mit dem Dynamometer erfasste er die Muskelkraft der Hand (Maß für die physische Leistungsfähigkeit), und mit dem Neuramöbimeter die Reaktionszeit (Maß für die psychische Leistungsfähigkeit). Zusätzlich notierte er introspektiv erfasste, nicht messbare Effekte, z.B. auf Allgemeinbefinden und Stimmung. Freud stellte eine positive Korrelation von Allgemeinbefinden und Leistungssteigerung fest. Zudem zeigte sich, dass die Verbesserung des Allgemeinbefindens (Stimmung, Euphorie) der messbaren Leistungssteigerung vorausging, sie also bedingte (s.o.). Diese Versuche Freuds sind bemerkenswert: Im Rahmen der Coca-Forschung ist nicht nur seine Deutung der Cocainwirkung innovativ, sondern auch der Gebrauch dieser Messgeräte und die systematische Kombination von Messung und Introspektion, durch die Freud erst zu seinen Ergebnissen kommt. Die meisten Coca-Forscher vor Freud hatten ihre Selbstversuche noch nach dem Vorbild der Indianer Südamerikas durchgeführt. Die Forscher hatten die Art des indianischen Coca-Konsums imitiert, insbesondere das Kauen der Coca-Blätter zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit. So wanderten sie beispielsweise dieselben Strecken mit und ohne Coca-Konsum, und haben die Cocawirkung dann indirekt aus dem Vergleich der dabei erfassten Effekte erschlossen (vgl. Christison 1876). Selbstversuche waren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine verbreitete und anerkannte psychopharmakologische Methode, um die Wirkung einer Substanz auf den gesunden Organismus zu erforschen. Aber kehren wir zurück von Freuds methodischen Innovationen zu seiner neuen Deutung der Cocainwirkung:

Springer (2002, S. 22) sieht darin eine Orientierung an psychosomatischen Modellvorstellungen. Ich gehe einen Schritt weiter und spreche von einem Paradigmenwechsel: Dass Freud die Psyche in der kausalen Wirkkette voranstellt, bedingt eine ganz neue Sicht- und Denkweise. Freuds Blick wird frei, die Wirkmächtigkeit der Psyche in ihrem vollen Ausmaß wahrzunehmen. Er kann die Psyche nun als etwas zu sehen, das alles andere nach sich ziehen bzw. wesentlich beeinflussen kann, wie körperliche Zustände oder auch die ganze, das Subjekt umgebende Welt. Die Psyche in der kausalen Wirkkette an erste Stelle zu setzen bedeutet also, dass es auf einmal Sinn macht sie zum Ausgangspunkt von Theoriebildung und medizinischer Behandlung zu machen, selbst wenn die Beschwerden scheinbar rein körperlicher Natur sind. Den wissenschaftlichen und therapeutischen Wert dieser Perspektive, die Freud seiner Cocainerfahrung verdankt, hat er wohl nicht sofort erkannt. In den folgenden Jahren rudert Freud noch einige Male zurück zu theoretischen Ansätzen, die mehr Konformität mit zeitgenössischen Lehrmeinungen aufweisen (vgl. Freud 1950c).

Ein Beispiel für diese ‚regressiven‘ Ansätze ist Freuds letzte Cocain-Schrift (1887d), die einen Beitrag zur internationalen Debatte über die Cocainwirkung der 1880er Jahre bildet. In dieser Debatte werden inzwischen Intoxikationsfälle sowie die potenziell suchterregende Cocainwirkung diskutiert. Gerade in Bezug auf die Entzugsbehandlung der Morphinsüchtigen, für die Freud Cocain als Hilfsmittel empfohlen hatte (1884e), war das Cocain fragwürdig geworden. Seit Beginn der Cocainanwendung in diesem Kontext (1884 in Europa) war die Anzahl von Psychosen auffällig gestiegen. Die meisten Ärzte brachten diese dramatischen Komplikationen der Entziehungskuren zunächst gar nicht mit dem ‚harmlosen‘ Cocain in Verbindung, sondern klassifizierten sie als „Morphinabstinenzpsychosen“ (Smidt 1886). Einzelne Kliniker fragten hingegen, ob Cocain nicht doch suchterregend und ausreichend toxisch sei, um diese Psychosen zu verursachen. Der „Morphinismus“-Experte Albrecht Erlenmeyer lieferte schließlich die erste einschlägige Beschreibung des neuen Krankheitsbildes der „Cocainsucht“ in Europa (Erlenmeyer 1886). Er konstatierte, dass in Folge der Cocainbehandlung die meisten Morphinisten zu „Morphio-Cocainisten“ geworden seien. Erlenmeyer warnte nun eindringlich vor der destruktiven Cocainwirkung, die eine Person sowohl psychisch als auch physisch viel schneller zugrunde richten würde als das Morphin. Andere Ärzte schlossen sich seiner Auffassung nach und nach an (Bornemann 1886; Villaret 1900). Konfrontiert mit den unheilbringenden Folgen des therapeutischen Cocainkonsums verteidigt Freud (1887d) seine Cocain-Empfehlungen (zumindest für Patienten ohne Morphinsucht) doppelt: er zitiert wissenschaftliche Autoritäten als Fürsprecher seiner Auffassung über den allgemeinen therapeutischen Wert des Cocains, und er greift bei der Erklärung der Cocainwirkung wieder auf die tradierte Auffassung zurück. Der potentiell strategische Charakter dieser Rückkehr im Rahmen einer Apologie bleibt zu bedenken.

Ab April 1886 ist Freud als Nervenarzt in seiner neugegründeten Wiener Praxis stärker denn je mit der Situation konfrontiert, keine überzeugenden Behandlungsmethoden zur Verfügung zu haben. Im Verlauf der nächsten Jahre verhilft ihm der bereits vollzogene Paradigmenwechsel, einen Behandlungsweg jenseits von Medikation und den herkömmlichen physikalischen Heilmethoden (wie Elektrizität, Wasser, Luft) zu finden. Ein schon einmal gedachter Gedanke, ein bereits vollzogener Schritt, der so schwerwiegend, grundlegend und selten ist wie ein Paradigmenwechsel, verschwindet wohl nicht einfach aus der Welt. Als bereits in Freuds Kopf und Erfahrung existierende Größe hatte es die neue ‚psychische‘ Sichtweise nun einfacher, auf fruchtbaren Boden zu fallen. Sie machte Freud für Wege und Anregungen empfänglich, die zur Psychoanalyse führten. Die ‚psychische‘ Sichtweise war sozusagen die geistige Tür zur Entwicklung der Psychoanalyse. Zusammenfassend könnte man also sagen, dass Cocain das Medium war, das Freuds Paradigmenwechsel ermöglicht hat, der wiederum die Psychoanalyse ermöglicht hat, die heutzutage mit Freuds Namen verbunden ist.

Als Cocain-Forscher ist Freud in Vergessenheit geraten, obgleich er seinerzeit für die europäische Cocain-Forschung eine bedeutende Rolle als Anreger und Wissensvermittler gespielt hat. Mit seinem ersten Coca-Aufsatz (1884e) erstellte er den damals ausführlichsten deutschsprachigen Überblick über die internationale Coca(in)-Forschung. Freuds Cocain-Schriften (1884-87) wurden breit rezipiert und größtenteils positiv aufgenommen (vgl. Villaret 1899, S. 378). Die Resultate von Freuds Selbstversuchen (wie z.B., dass „die Druckkraft einer Hand durch die Einnahme von 0·10 gr Cocaïn mur. um 2–4 Kilo […] erhöht wird“, Freud 1885b, S. 25) wurden als Forschungsergebnisse akzeptiert (vgl. Joël & Fränkel 1924, S. 39). Freud hat in Europa zahlreiche Cocain-Versuche angeregt, auch die therapeutischen Cocain-Versuche an Morphinisten, aus denen die ersten europäischen „Cocainsüchtigen“ hervorgingen. Freud verhalf auch seinem Kollegen Carl Koller zu der Erkenntnis, die Cocain im Herbst 1884 quasi über Nacht in der „ganzen zivilisierten Welt“ berühmt machen sollte: Cocain war ein brauchbares Lokalanästhetikum für die Augenheilkunde (Koller 1884, Sp. 1276; vgl. Gutt 1885). Für die fatale Entwicklung der Cocainsucht in Europa wurde Freud von seinen Zeitgenossen nicht verantwortlich gemacht.


Literatur:
-) Aschenbrandt, T. (1883). Die physiologische Wirkung und Bedeutung des Cocain. muriat. auf den menschlichen Organismus. Klinische Beobachtungen während der Herbstwaffenübungen des Jahres 1883 beim II. Bayer. A.-C. 4. Div. 9. Reg. 2. Bat. Deutsche Medicinische Wochenschrift 9 (50), S. 730-732.
-) Bornemann (1886). Zur Cocainsucht. [Sonder-Abdruck aus der Deutschen Medizinal-Zeitung 71 (1886)].
-) Christison, R. (1876). Observations on the effects of cuca, or coca, the leaves of Erythroxylon coca. The British Medical Journal: Being the Journal of the British Medical Association 1 (1876), S. 527-531.
-) Erlenmeyer, A. (1886). Über Cocainsucht. Vorläufige Mitteilung. Deutsche Medizinal- Zeitung 7 (1886), S. 483-484.
-) Freud, S. (1884e). Ueber Coca. Centralblatt für die gesammte Therapie 2 (1884), S. 289-314.
-) Freud, S. (1885a). Beitrag zur Kenntniss der Cocawirkung. Wiener Medizinische Wochenschrift 35 (5), Sp. 129-133.
-) Freud, S. (1885b). Ueber die Allgemeinwirkung des Cocains. Vortrag, gehalten im psychiatrischen Verein am 5. März 1885 von Dr. Sigm. Freud. Zeitschrift für Therapie mit Einbeziehung der Electro- und Hydrotherapie. Central-Organ für praktische Aerzte 3 (7), S. 49-51.
-) Freud, S. (1887d). Bemerkungen über Cocaïnsucht und Cocaïnfurcht mit Beziehung auf einen Vortrag W.A. Hammondʼs. [Beiträge über die Anwendung des Cocaïn. Zweite Serie. I.] Wiener Medizinische Wochenschrift 37 (28), Sp. 929-932.
-) Freud, S. (1950c) [1895]. Entwurf einer Psychologie. GW IV, S. 375-386.
-) Husemann, A. (Hrsg.). (1884). Die Pflanzenstoffe in chemischer, physiologischer, pharmakologischer und toxikologischer Hinsicht. Für Aerzte, Apotheker, Chemiker und Pharmakologen. Bd. 2. Berlin: Julius Springer.
-) Joël, E. & Fränkel, F. (1924). Der Cocainismus. Ein Beitrag zur Geschichte und Psychopathologie der Rauschgifte. Berlin: Springer Verlag.
-) Nothnagel, H. & Rossbach, M.J. (1884). Handbuch der Arzneimittellehre (5. Aufl.). Berlin: Verlag von August Hirschwald.
-) Reicheneder, J.G. (1988). Cocaineuphorie und Naturwissenschaft. Sudhoffs Archiv 72 (2), S. 170-184.
-) Smidt, H. (1886). Zur Kenntniss der Morphinismuspsychosen. Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 17 (1886), S. 257- 273.
-) Springer, A. (2002). Kokain, Freud und die Psychoanalyse. Suchttherapie 3 (1), S. 18-23.
-) Villaret, A. (Hrsg.). (1899). Handwörterbuch der gesamten Medizin (2. Aufl.). Bd. 1. Stuttgart: Ferdinand Enke.
-) Villaret, A. (Hrsg.). (1900). Handwörterbuch der gesamten Medizin (2. Aufl.). Bd. 2. Stuttgart: Ferdinand Enke.


Sigmund Freud Museum SFU Belvedere 21er haus stuhleck kunsthalle
warda network orange