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Leitartikel


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Organisatorische Orientierung:
Eine psychodynamische Perspektive

Autor/in: Manfred F.R. Kets de Vries

(10.10.2018)
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Top-Führungskräfte müssen erkennen, dass strategische Umsetzung keine abstrakte Übung ist. Es involviert Menschen. Und dass Menschen gemeinsam auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten, ist nicht selbstverständlich. Die Menschen müssen kooptiert werden, um die Umsetzung der Strategie erfolgreich zu gestalten. Wie schon viele Führungskräfte lernen mussten, ist es ein harter Weg, um alle auf die gleiche Seite zu bringen, um in die gleiche Richtung zu ziehen. Es kann eine schwierige Herausforderung voller Widerstände sein. Und selbst wenn die betreffenden Führungskräfte den Willen dazu haben, einem bestimmten Weg zu folgen, haben sie möglicherweise nicht die Fähigkeiten, dorthin zu gelangen. Sie können eine Art von dysfunktionalem Verhalten aufweisen, das die Teamarbeit sehr schwierig macht.

Wenn wir über Veränderungen nachdenken, sollten wir nicht vergessen, dass unsere Persönlichkeit im Alter von dreißig Jahren ziemlich stabil ist. Aber obwohl unsere Persönlichkeit früher eine größere Plastizität hat, sind wir immer noch in der Lage, unser Verhalten in späteren Stadien zu verändern. Veränderungen in späteren Lebensphasen sind jedoch nicht so einfach. Führungskräfte sind ein typisches Beispiel. Viele von ihnen befinden sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, und sind aufgrund ihrer gewohnten Verhaltensmuster dort hingekommen. Obwohl es für andere offensichtlich sein kann, dass Aspekte des Verhaltens einer Führungskraft dysfunktional sind, sehen die betroffenen Personen meistens keinen zwingenden Grund, sich zu ändern, da diese Verhaltensmuster ihnen bisher gut gedient haben. Infolgedessen scheinen sich viele von ihnen in ein sogenanntes mentales Gefängnis eingeschlossen zu haben. Sie klammern sich an gewohnheitsmäßiges Verhalten, in der Hoffnung auf ein anderes Ergebnis und verschieben dann die Schuld auf andere. Das erinnert mich an das alte Sprichwort: „Wenn Du entdeckst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab!” Und selbst wenn diese Führungskräfte bereit sind, sich zu ändern, wissen sie nicht wirklich, wie sie die Dinge anders machen sollen. Sie sehen die anderen lebendigen Pferde nicht, die sie reiten könnten. Sie haben noch nicht erkannt, dass die psychische Gesundheit darin besteht eine Wahl zu haben.

Viel beschäftigte Führungskräfte, die sich neu erfinden wollen, um effektivere Führungskräfte zu werden, werden nicht langwierige psychoanalytische oder psychotherapeutische Verfahren aufsuchen wollen, um sich zu verändern. Aufgrund ihrer überwältigenden Verantwortlichkeiten und Zeitbeschränkungen suchen sie oft nach schnelleren Lösungen. Die Herausforderung besteht eindeutig darin, eine Interventionsmethode zu entwickeln, die traditionellen Therapiestrategien ähnlich ist, die – beispielsweise den nicht bewussten (unbewussten?) Widerstand gegen Veränderungen adressiert, aber in einer Weise, die von Führungskräften als sinnvoll, effektiv und handhabbar empfunden wird. Hier kann die von mir entwickelte psychodynamische Coaching-Methodologie eine wichtige Rolle spielen.

Nachdem ich tausende Führungskräften im Rahmen verschiedener Gruppencoaching-Interventionen beobachtet habe, habe ich gelernt, wie man eine Anzahl von starken (bewussten und unbewussten) psychologischen Kräften ins Spiel bringt, um Wendepunkte für Veränderungen herbeizuführen. Ich beziehe mich auf solche Veränderungsprozesse, die eine kathartische Erfahrung ermöglichen, gegenseitige Identifikation fördern, eine psychodynamische Linse anwenden (Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufzubauen), einen sicheren Übergangsort schaffen, um mit neuem Verhalten zu experimentieren, stellvertretende Erfahrungen zu ermöglichen und kollektives Lernen zu unterstützen, eine wahre Gemeinschaft zu schaffen und das altruistische Motiv auszunutzen. Interessanterweise greifen eine Reihe von Beratungsunternehmen, die über die Unfähigkeit ihrer Kunden Sachen auszuführen wenig begeistert sind, zunehmend auf verschiedene Gruppen-Coaching-Methoden zurück, um die Implementierung zu fördern. Lassen Sie mich ein Beispiel für eine Intervention geben, die ich gebeten wurde zu halten:

Das Führungsteam eines globalen Energiekonzerns wurde durch die rasante Entwicklung in der Ölindustrie zum Handeln gezwungen und wusste, dass sie ihre solide, aber selbstgefällige Organisation in ein High-Tech- und auf Nachhaltigkeit ausgerichtetes Unternehmen umstrukturieren mussten. Um diesen Übergang zu erleichtern, hatte der CEO Jim, einen brillanten Ingenieurprofessor, als neuen Chief Knowledge Officer [N-T. Wissensmanagers] eingestellt. Etwa zur gleichen Zeit wurde eine weitere Führungskraft gebeten, dem Team als Vice President Technology, Products und Services [N.T. Vizepräsident von Technologie, Produkte und Service] beizutreten. John war ein erfahrener Manager in der Erdölindustrie, der von einem der Hauptaktionäre unterstützt wurde, um ein großes Offshore-Bohrprojekt in Betrieb zu nehmen. Diese beiden Neuzugänge verschlechterten jedoch, was bereits ein ineffektives oberstes Entscheidungsgremium war. Innerhalb weniger Monate nach Jims und Johns Ankunft war ein Krieg zwischen diesen Außenseitern und den anderen Mitgliedern des Führungsteams ausgebrochen.

Das Unternehmen war so stark in sein Offshore-Energieprojekt involviert, dass bestimmte Fristen eingehalten werden mussten - und der Druck anstieg. Obwohl Verzögerungen sehr kostspielig gewesen wären, schien es unter den Mitgliedern des Führungsteams an Dringlichkeit zu mangeln, um mit dem Projekt voranzukommen. Stattdessen schienen Platzkämpfe um Ressourcen wichtiger zu sein, als die Orientierung auf das gemeinsames Ziel und die Arbeit für das Gemeinwohl. Offene, konstruktive Kommunikation fehlte. Vertrauen war völlig abwesend. Alle Mitglieder des Führungsteams waren ausnahmslos dabei die angestrebten Ziele nicht zu erreichen. Das Fehlen klarer Ziele und abgestimmter Prozesse führte zu einer erfolglosen Umsetzung der Strategie des Unternehmens.

Da sich die Dinge nicht besserten, beschloss der CEO, alle Mitglieder des Führungsteams zusammenzubringen, was ich euphemistisch als Teamintervention bezeichnet hatte. Das Ziel wäre, über ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, Arbeitspraktiken, Führungsstile und die Unternehmenskultur nachzudenken. Die zugrundeliegende Agenda bestand jedoch darin, eine optimale Teamausrichtung zu erreichen und den Unternehmenstransformationsprozess effektiver umzusetzen. Außerdem plante ich einen Blick auf die Ursachen des Konflikts zwischen den verschiedenen Mitgliedern des Führungsteams zu werfen.

Es hat mich nicht viel Mühe gekostet, herauszufinden, dass aufgrund der schlechten Umsetzungsfähigkeiten der Führungskräfte die Moral der Firma gering war, der Transformationsprozess ins Stocken geraten war, das Offshore-Projekt mit teuren Verzögerungen zu kämpfen hatte und sie schnell auf rote Zahlen zusteuerten. Wie ich in meinen Interviewnotizen zusammengefasst habe, bestand der allgemeine Konsens darin, dass der Exekutivausschuss nicht wirklich eine Mannschaft war, sondern eine Gruppe von einzelnen Schiffen, die in der Nacht fuhren und unterschiedliche Ziele hatten. Sie waren nicht in der Lage, einen konsequenten Aktionsplan bis tief in die Organisation hinein zu verfolgen und ihre Mitarbeiter zu vereinigen, und voll für die Umsetzung ihrer organisatorischen Ziele zu gewinnen.

Bei der Eröffnung der Teamintervention hielt ich einen kurzen Vortrag über leistungsstarke Unternehmen und effektive Führung. Anschließend (um das Eis zu brechen und eine etwas spielerische Atmosphäre zu schaffen) bat ich jedes Mitglied des Exekutivkomitees, ein Selbstporträt zu zeichnen, ein Bild davon, wie sie sich selbst in Bezug auf das, was in ihrem Kopf, Herz, Magen war, bzw. wie sie sich in der Vergangenheit, Gegenwart, Arbeit und Freizeit, sehen. Nach anfänglichem Grummeln und Skepsis gegenüber solchen (scheinbar nutzlosen) Aktivitäten, vertieften sich alle Führungskräfte schnell in diese Aufgabe. Als alle Selbstportraits fertig waren und an der Wand gezeigt wurden, begann ich mit der Sitzung, indem ich Jim fragte, ob er den Prozess starten wollte, indem er der Gruppe von seiner Zeichnung erzählte. Er stimmte bereitwillig zu, da dies die Art von kreativer Übung war, mit der er sich ausdrücken konnte. Anschließend durchlief jedes Mitglied der Geschäftsleitung, einschließlich des CEOs, den gleichen Prozess. Jeder nahm den "heißen Platz" ein, um seine Geschichte zu erzählen, und erhielt von der Gruppe konstruktives Feedback.

Durch die Erzählung des Selbstportraits (kombiniert mit dem Teilen von zwei 360-Grad etwas psychodynamisch orientierten Umfrage-Feedback-Berichten von jeder Person) hat die Gruppe der Führungskräfte überraschende Dinge voneinander gelernt. Darüber hinaus wurde während der anschließenden Diskussionen deutlich, dass die Übertragungsreaktionen in einer Reihe von Konflikten zwischen den Mitgliedern des Exekutivteams im Mittelpunkt standen. Natürlich musste ich vorsichtig sein, als ich versuchte, damit umzugehen. Die Aussage "Langsam, ich habe es eilig" sollte man im Auge behalten. Wie in einer psychoanalytischen Sitzung ist es in dieser Arbeit wichtig, "zuzuschlagen, wenn das Eisen kalt ist". Die Person muss bereit für eine Übertragungsdeutung sein.

Eines der Resultate der Teamintervention war, dass die Führungskräfte sich der Tatsache stellen mussten, dass sie Teil eines größeren Systems waren, und dass ihre gegenwärtigen Aktionen bereits vorherrschendes Silo-Denken und soziale Verteidigungen verstärkten, und somit eine gemeinsame Ausrichtung verhinderte und Ausführungen erschwerte. Nun, ermutigt von den anderen Mitgliedern der Gruppe, nannte jeder von ihnen (einschließlich der CEOs) einige spezifische Verhaltensänderungen, auf die sie sich konzentrieren wollten, um die Kommunikation und Zusammenarbeit mit den anderen Teammitgliedern zu erleichtern. Sie alle bestätigten, dass sie sich wirklich dafür einsetzen wollen, die beabsichtigte Strategie des Unternehmens effektiv umzusetzen und den Transformationsprozess herbeizuführen. Die Intervention wurde mit einem Aktionsplan abgeschlossen, um Wege zu finden, wie jeder von ihnen persönlich zur Ausrichtung des Teams beitragen und die allgemeine Ausführung verbessern kann. Die Sitzung enthielt am Ende auch Empfehlungen, um einen klaren Prozess und Verantwortlichkeit sicherzustellen.

Durch diesen psychodynamischen Gruppencoaching-Prozess erhielten alle Führungskräfte einen umfassenden Einblick in ihre eigenen Stärken und Schwächen und die der anderen. Da die Sitzung einen persönlichen Aktionsplan für Veränderungen enthielt - basierend auf ihren individuellen Feedbackberichten sowie den Kommentaren der Gruppe - versprachen sie sich gegenseitig zu coachen, falls einer/eine von ihnen von seinen/ihren spezifischen Aktionspunkten abwich. Für das gesamte Team gab es zudem eine erste echte Debatte, um Klarheit darüber zu erlangen, wohin das Unternehmen gehen muss, um erfolgreich zu sein, und sich einer Reihe von Maßnahmen zu unterziehen, um eine bessere Ausführung zu erreichen.

Durch die Intervention begann das Führungsteam zum ersten Mal wie ein richtiges Team zu agieren. Sie waren nun auch bereit, zusammenzuarbeiten, sich hinter dem beabsichtigten Aktionsplan zu positionieren, die Umsetzung zu verwirklichen und nicht den Protektionismus - der schwierigste Teil ihrer Arbeit. Sie waren nun in der Lage, ihren Mitarbeitern konsequent zu kommunizieren, wohin sie als Team gelangen wollten. Ihr Unternehmenstransformationsplan wurde nun zu einem lebendigen Dokument. Mit anderen Worten, sie zogen alle an einem Strang.

Bei einem nachfolgenden Treffen einige Monate später, erfuhr ich, dass die Mitglieder des Führungsteams nun das Gefühl hatten, dass sie als Gruppe viel effektiver geworden waren. Es gab eine größere Offenheit zwischen ihnen, geprägt von echtem Dialog und größerem Gedankenaustausch. Es gab ein größeres Verantwortungsgefühl, mehr Vertrauen und weniger Angstmanagement. Dies wiederum ermöglichte eine stärkere Ausrichtung auf die Richtung, in die das Unternehmen gehen sollte. Schließlich wurden Entscheidungen nun umgesetzt, und das Unternehmen sah Fortschritte und bewegte sich in die richtige Richtung.

Im Rückblick auf das Coaching-Event bestaunten die Führungskräfte das Ausmaß, in dem sie sich nach einem so kurzen Workshop zusammengekommen waren. Sie kommentierten die Tatsache, dass sie jetzt ihre Meinung sagen und verletzlicher sein konnten; sie hatten ein größeres Vertrauen und Respekt füreinander entwickelt. Mit diesem Vertrauen waren sie auch in der konstruktiven Konfliktlösung besser geworden, was zu einem stärkeren Engagement und zu mehr Eigenverantwortung, und vor allem zu besseren Ergebnissen führte. Die Erfahrung der psychodynamischen Gruppencoaching-Intervention ließ sie erkennen, dass gut geplante Aktionspläne bedeutungslos waren, ohne auch die Probleme der Menschen in der Gleichung miteinzubeziehen.

Die Mitglieder des Exekutivteams betonten, dass die psychodynamische Gruppencoaching-Intervention sich als großartige Möglichkeit erwies, eine wahrhaft vernetzte Organisation zu schaffen, da sie das paranoide Denken minimierte, das zuvor in ihren virtuellen, sehr unterschiedlichen Teams üblich war. Offensichtlich hat die Gruppenintervention das Silo-Denken durchbrochen und den Weg zu einem uneingeschränkten Unternehmen mit echtem Informationsaustausch geebnet. Geheimhaltung war nicht mehr- wie in der Vergangenheit- die Norm. Nun waren alle bereit, zu einer agileren, lernenden Organisation beizutragen. Und nicht zuletzt hat ihnen die Erfahrung im psychodynamischen Gruppencoaching geholfen, mit der Achillesferse umzugehen, die ihre Organisation so lange geplagt hatte: die Umsetzung!


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