Anna Freud aus Amerikanischer Perspektive (Teil I)
Autor/in: Carmen Birkle
Die Wiener Schule der Psychoanalyse mit ihrem Schöpfer und Hauptvertreter Sigmund Freud (1856-1939) stieß auf großes Interesse in den USA und wurde besonders prominent, als Freud 1909 die USA besuchte. Psychoanalytisch interessierte Amerikaner strömten nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien, bis die Nationalsozialisten die Metropole 1938 übernahmen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Sigmund Freud, zusammen mit seiner Tochter, Anna (1895-1982) und viele ihrer (oft jüdischen) Freunde und Patienten, die Stadt und das Land bereits verlassen. Menschen mit amerikanischen und englischen Pässen, darunter viele jüdische Medizinstudenten und Fakultätsmitglieder sowie Ärzte, die über die American Medical Association of Vienna nach Wien kamen, kehrten in ihre Heimatländer zurück und halfen gefährdeten Kollegen und Freunden mit eidesstattlichen Erklärungen, um der zunehmend feindseligen, gewalttätigen und stark antisemitischen Atmosphäre zu entkommen.
Dokumente wie Autobiographien, Biografien und verschiedene andere Mikroerzählungen der Zeit zeigen, dass Anna Freud eine sehr wichtige Rolle bei den Interaktionen mit ausländischen Besuchern spielte, die sich nach Selbstanalyse und/oder analytischem Training sehnten, um selbst Psychoanalytiker - mit oder ohne medizinische Vorkenntnisse - zu werden. Einige, wie Muriel Gardiner (1901-1985), hatten ihre medizinischen Studien vor dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen und auch eine beträchtliche Anzahl von psychoanalytischen Sitzungen besucht; andere, wie Esther Menaker (1907-2003), schrieben sich am Wiener Psychologischen Institut ein, um bei Karl (1879-1963) und Charlotte Bühler (1893-1974) Unterricht nehmen zu können. Während Gardiner aufgrund zusätzlicher Untersuchungen bei ihrer Rückkehr in die USA als professionelle Psychoanalytikerin praktizieren durfte, wurde Esther Menaker, die nur als Laien galt, zunächst nicht offiziell praktizieren, sondern musste sich schrittweise in die Strukturen ihrer Berufsgenossenschaft integrieren; trotzdem fühlte sie sich immer wie ein Außenseiter in dem Feld.
Sowohl Muriel Gardiner als auch Esther Menaker waren stark von Anna Freud beeinflusst, die sie auf ganz unterschiedliche Weise kennenlernten. Während Gardiners Sicht auf Anna Freud die einer Kollegin und Freundin ist, beschränkt sich Menakers Rolle auf die einer Schülerin, eine Rolle, die sie nie ganz vergessen kann. Aus diesem Grund, denke ich, dass Gardiners Autobiographie
Codename "Mary" (Deutsch 1978, Französisch 1981, Englisch 1983) eine emanzipierte und selbstbewusste junge Frau zeigt, die sich voll und ganz, als Ebenbürtige in die psychoanalytische Welt vertieft hat – zusätzlich zu ihren politischen Aktivitäten im österreichischen sozialistischen Untergrund, begleitet von ihrer Liebe und Heirat mit dem österreichischen (und Kärntner) Freiheitskämpfer Joseph Buttinger (1906-1992). In Esther Menakers
Appointment in Vienna [Menakers Autobiographie wurde erstmals 1989 als Appointment in Vienna: An American Psychoanalyst Recalls Her Student Days in Pre-War Austria veröffentlicht, dann als revidierte Ausgabe 1995 unter dem Titel Misplaced Loyalties, und wurde schließlich 1997 als Schwierige Loyalitäten: Psychoanalytische Lehrjahre in Wien 1930-1935 ins Deutsche übersetzt. Ich benutze hier die Ausgabe von 1989] findet man eher eine Frau, die um Emanzipation von einer psychoanalytischen Behandlung kämpft, die sie als bedrückend empfand und von jemandem praktiziert wurde, den sie für überlegen hielt und dennoch nicht vollständig respektieren konnte. In beiden Fällen spielt Anna Freuds Expertise in der Kinderanalyse eine wichtige Rolle.
Der Kontakt und die spätere Freundschaft zwischen Anna Freud und Muriel Gardiner begann in den späten zwanziger Jahren mit Gardiners Ankunft in Wien im Jahr 1926, und ihrem Bedürfnis nach psychoanalytischer Unterstützung wegen ihrer unglücklichen Ehe mit dem Engländer Harold Abramson, zu entwickeln. Gardiner war Tochter des Besitzers eines der, Anfang des 20. Jahrhunderts, reichsten amerikanischen fleischverarbeitenden Firmen in Chicago. Sieabsolvierte das Wellesley College, blieb bis 1938 in Wien, zog dann kurz nach Paris, bevor sie schließlich in die USA zurückkehrte. Dort praktizierte sie Psychiatrie und beendete ihre psychoanalytische Ausbildung am Institut der Philadelphia Association for Psychoanalysis, danach lehrte sie bei Rutger und arbeitete als psychiatrische Beraterin. Sie veröffentlichte später Bücher über den Wolfsmann und über Kinderpsychiatrie mit dem Schwerpunkt auf jugendliche Straftätern. Es ist Anna Freud, die Gardiners Autobiographie krönt, nachdem sie das Vorwort geschrieben hatte, und die letzten Worte am Schluss durch einen ihrer Briefe an Gardiner, indem sie sie für ihr mutiges Leben im österreichischen Untergrund lobt.
Als Gardiner in Wien ankam, hatte sie gehofft, von Sigmund Freud selbst analysiert zu werden. Er verwies sie jedoch an Dr. Ruth Mack Brunswick (1899-1946), eine Amerikanerin, die selbst von Freud behandelt worden war. Gardiner unterzog sich einer Behandlung, die drei Jahre andauern sollte, und war zufrieden, aber ärgerte sich darüber, dass Dr. Brunswick versuchte,
"meine Lebensweise zu sehr zu kontrollieren oder zu beeinflussen, wie es viele Analytiker in den 1920er Jahren taten". Zu jener Zeit war eine enge soziale Interaktion zwischen Analytiker und Analytiker die Norm. Gardiner überzeugte Dr. Brunswick schließlich, sie Freud bei einem Familientreffen vorzustellen,
"in einem Wiener Vorort, vielleicht in Grinzing oder Heiligenstadt, wo die Freuds ein Haus hatten", und wo der größte Teil der Familie anwesend war. Sie war von Freud so beeindruckt, dass sie seine ganzen Werke und vieles von Karl Abraham (1877-1925) und Sándor Ferenczi (1873-1933) las und erkannte, dass sie nicht nur ernsthaft Psychoanalyse trainieren, sondern auch Medizin studieren musste, um schließlich auch in den USA Psychotherapie praktizieren zu dürfen.
In ihren letzten Jahren in Wien wurde Gardiner zu einem bedeutenden Teil der psychoanalytischen Gemeinde in Wien und nahm regelmäßig an der berühmten Mittwochsgesellschaft teil, wo sie Anna Freud und die Amerikanerin Dorothy Burlingham (1891-1979) kennenlernte, die später als Laiin Psychoanalyse praktizierte und mit der Familie Freud nach England zog, um den Nazis zu entkommen. Gardiner selbst kannte Anna Freuds psychologische Überzeugungen durch ihre Gouvernante Gerda, und später Fini Wodak, die beide
"eine Ausbildung als Kindergärtnerin in einer von Anna Freud beeinflussten Schulen" erhalten hatten. Muriel Gardiner war sehr von Anna Freuds psychoanalytischen Vorstellungen über Kinder überzeugt und beschloss, ihrer eigene Tochter Connie die bestmögliche Ausbildung zu ermöglichen, indem sie eine psychoanalytisch interessierteGouvernante einstellte.
Laut Sheila Isenbergs Biographie von Muriel Gardiner, bot Tony Hyndman, Stephen Spenders
[Der englische Dichter Stephen Spender (1909-95) hatte eine kurze Affäre mit Muriel Gardiner, bevor Gardiner Joseph Buttinger kennenlernte] ehemaliger Partner, 1939 an, Fini Wodak zu heiraten, nachdem sie am 1. August mit Connie und Muriel Gardiner zu Gardiners Hochzeit mit Joe Buttinger nach Paris zurückgekehrt war. Durch ihre Ehe mit Tony, erhielt Fini Wodak einen britischen Pass und ging, ausgestattet mit Geld, das Gardiner ihr gegeben hatte,nach London, wo sie sich
"bald eine Haushaltungsposition mit Anna Freud [...] sicherte". Gardiners lockere Freundschaft mit Anna Freud setzte sich trotz der langen Distanz zwischen den USA und England im Laufe der Jahre fort. Als Gardiner die Erzählungen über den sogenannten Wolfsmann, einen ehemaligen Patienten von Sigmund Freud, redigierte, schrieb Anna Freud, damals Gardiners "enge Freundin" (Isenberg), das Vorwort.
Gardiner vertraute sich auch Anna Freud an, als Joe Buttinger, ihr Ehemann, an Alzheimer zu leiden begann, wie Sheila Isenberg erklärt. Isenberg konsultierte die Anna Freud Dokumente
[die sich in der Library of Congress in Washington, DC, als Teil der Sigmund Freud Collection befinden], unter denen es eine ganze Reihe von Briefen von Muriel Gardiner gibt, die von ihrer langen Freundschaft und ihrem gemeinsamen Interesse an Fragen der Psychoanalyse zwischen ihr und Anna Freud zeugen. Gardiner hielt es für wichtig, Freuds Vermächtnis zu bewahren, sowohl seine Schriften als auch seine letzte Residenz in London, 20 Maresfield Gardens in Hampstead, die sie kaufte, damit Anna Freud ihre letzten Jahre dort verbringen konnte. Wie Isenberg erklärt, wird dies
"der Ort sein, wo später das Freud Museum" bestehen wird, das wiederum von Gardiner, ihrer New-Land Foundation, und Hal Harvey, einem ihrer Enkel, nach dem Tod von Anna Freud am 9. Oktober 1982
[vgl. Isenberg] gemanagt und organisiert wurde.
Muriel Gardiner und Anna Freud kannten sich, während Gardiners Jahren in Wien, nicht sehr gut. Sie trafen sich zur Mittwochsgesellschaft und teilten ein Interesse an Kinderpsychologie. Da Gardiner jedoch über beträchtlichen Reichtum verfügte, und weil sie von Sigmund Freuds Theorien absolut überzeugt war, konnte sie Anna Freud in ihrem Londoner Exil sowohl intellektuell als auch finanziell unterstützen. Für Gardiner war Anna nicht nur Sigmund Freuds Tochter, sondern auch Zeugin der ereignisreichsten Zeit ihres Lebens im Wien der 1930er Jahre. Es war eine Zeit der Angst, der Zerstörung und des Todes, aber für Gardiner auch der Liebe, der Reifung und der Nützlichkeit.
Im Gegensatz zu Muriel Gardiner hatte ihre Schwester Ruth, die an der Cornell Medical School Medizin studiert hatte, in Wien als Postdoktorandin gearbeitet und hat sich als
„Teil ihrer Ausbildungsvoraussetzungen“ (Isenberg) einer
„Psychoanalyse –beindruckenderweise mit Anna Freud“- unterzogen. Jedoch,
"hat Ruth ihre kurze Interaktion mit der Psychoanalyse nicht gemocht und beurteilte sie als wertlos, nachdem Anna Freud ihrer junge Analysandin gesagt hatte, dass sie Harry Bakwin missbilligte" (Isenberg), ihr zukünftiger Ehemann, den sie 1925 in Paris heiratete.
Viele Jahre später schrieb Anna Freud ein Vorwort voller Lob für Gardiners Autobiographie, die erstmals 1978 in deutscher Sprache erschien (1981 in Englisch und 1983 in Französisch), welche Anna Freud las. Anna Freud betont Gardiners Mut, wie sie sich freiwillig und selbstlos der Angst und Furcht der Nazis aussetzte. Sie lobt Gardiners Stärke, dem Nazi-Bösen zu widerstehen, indem sie Menschen half, neue Pässe zu bekommen,
"lebensrettende Affidavits" (xii) zu erhalten und Österreich zu entkommen - oft über Paris nach England oder in die USA. Für sie ist Gardiners Autobiographie eine deutliche Mahnung an zukünftige Generationen die Albträume des NS-Regimes nicht zu vergessen.