Transgenerationales Trauma (Teil I)
Autor/in: Silvia Prosquill (DWP)
„Trauma ist ansteckend“ – so lautet das Postulat von Judith Herman. Mit diesen Worten hat die Autorin auf den Zusammenhang des Erleidens und der Weitergabe von schweren seelischen Belastungen innerhalb diverser Beziehungsstrukturen hingewiesen. Freud hat sich bereits mit transgenerational weitergegebenen, emotionalen Prozessen in seiner Arbeit „Totem und Tabu“ befasst. So postuliert er, dass wir
„[…] annehmen [dürfen], daß keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen. Die Psychoanalyse hat uns nämlich gelehrt, daß jeder Mensch in seiner unbewußten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der ihm gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt, die Entstellungen wieder rückgängig zu machen, welche der andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen vorgenommen hat. Auf diesem Wege des unbewußten Verständnisses all der Sitten, Zeremonien und Satzungen, welche das ursprüngliche Verhältnis zum Urvater Abstand zurückgelassen hatte, mag auch den späteren Generationen die Übernahme jener Gefühlserbschaft gelungen sein“ (Freud 1912-13, S. 190). Angela Moré setzt an Freuds Vorstellung der Gefühlserbschaft an und beschreibt, dass diese, angebunden an sein Konzept des Ödipuskomplexes, von ihm als Wiederholung einer unbewussten phylogenetischen Erbschaft verstanden wurde. Diese Erbschaft wäre als Einschreibung eines urgeschichtlich-mythologischen Vatermords in die psychische Struktur der Söhne zu verstehen. Freud hebt diesen Ansatz auf eine kollektive Ebene, wenn er in jenem psychogenetischen Muster den „Bodensatz der menschlichen Kulturen“ sieht. Eine vertiefte Befassung, und damit verbundene Erkenntnisgewinne in Bezug auf die Transgenerativität von Erfahrungen zeigen sich verstärkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei stand die Frage nach der Bedeutung erlittener Traumata für Nachfolgegenerationen des Nationalsozialismus im Vordergrund. Die Erkenntnisse zeigten, dass die Nachfolgegeneration von unbewussten Übermittlungen traumatischer Erfahrungen durch ihre Elterngeneration betroffen war. So zeigten sich insbesondere in der psychoanalytischen Behandlung von Holocaust-Opfern und ihren Nachkommen bei den betroffenen Familien traumatische Erfahrungen als ein unverarbeitetes und nicht integriertes Erleben. Sie stellten eine lebenslange Belastung für Opfer und Täter dar und ließen sich über Fantasien, Träume, über das emotionale Erleben und im unbewussten Handeln der späteren Generationen noch auffinden. Das Übertragungsphänomen lässt sich auch auf die Folgegeneration bei Missbrauchsopfern, Misshandlungsfällen, Kindern psychisch kranker Eltern, sowie auch bei Kriegs -und Foltererlebnissen. Die Nachwirkungen eines Extrem-Traumas – wie der Holocaust eines darstellt – verursachen eine fundamentale Veränderung der psychischen Struktur der Nachkommen.
Brigitte Rauschenbach (1998) hebt hervor, dass das Unbewusste als das, „wogegen sich unser Bewusstsein sträubt“ zu verstehen ist. Je heftiger die Abwehr ist, desto tiefer wären die Spuren im Unbewussten, womit sich aber auch eine starke Wirkmächtigkeit des Verdrängten ergibt. Die transgenerative Weitergabe von (traumatischen) Erfahrungen will sie nicht als „archaische Erbschaft“ im Sinne Freuds (1919), sondern als unbewusste Übertragung von ‚Ungesagtem-Verdrängtem’ verstanden wissen. Nach einer gewissen Zeit jedoch, die die Autorin mit Freud als „kulturelle Latenzzeit“ bezeichnet, würden sich die Traumatisierungen mit all ihren Ausprägungen in der Generation der Nachkommen fortschreiben, und zwar ebenso auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene: Individuelle Geschichten erhalten eine „kollektive Bedeutung“, wenn weite Bevölkerungsschichten (ob als Opfer, Mitläufer, Täter) von dieser Dynamik des Verdrängens betroffen sind. Damit verweist sie schlussendlich auch auf die überindividuell maßgebliche Bedeutung der Einbeziehung von Gedächtnisfragmenten im Erleben der mitbetroffenen Individuen für ein historisches Selbstbewusstsein einer Gesellschaft. Nach Moré prägen traumatische Erfahrungen nicht nur die unmittelbare Nachfolgegeneration, sondern setzten sich in der dritten, vierten nachfolgenden Generationen fort.
Traumatisierte Eltern sind über ihre unerträglich gewordenen Erlebnisse nicht in der Lage, ihre Affekte, Phantasien und die damit verbundenen Selbstanteile auszuhalten oder ihre Erfahrungen symbolisch zu bearbeiten. Sie brauchen ihre Kinder ihrerseits als „Container“ um sich projektiv zu entlasten. In dieser Weise kommt es zu einer Reinszenierung der Traumata durch die Kinder, da diese, wie Bohleber (1998) schreibt, zu verstehen (ver-)suchen, was den Eltern zugestoßen ist. Da die verinnerlichten Affekte aber nicht symbolisiert, nicht versprachlicht werden konnten, sind die Kinder ebensowenig in der Lage, sie symbolisch zu verarbeiten. In dieser Weise leben jene Kinder in zwei Wirklichkeiten: In der eigenen und in jener wiederholten traumatischen Geschichte der Eltern.
Die Bedeutung von TriggernMarianne Rauwald (2013) beschreibt den intrapsychischen Vorgang der traumatischen Weitergabe mit dem Begriff der Triggerung. Unter Trigger versteht die Autorin einen Sinneseindruck, der Erinnerungen an alte Erlebnisse wiedererweckt. Durch diese permanente Übererregung und die erhöhte Wachsamkeit werden die Abwehrmechanismen der Spaltung, Intrusion, Vermeidung und Verleugnung installiert. So kann zum Beispiel das Schreien eines Säuglings traumatische Erinnerungen der Eltern in ihrem Unbewussten wiederbeleben und die genannten Abwehrmechanismen auslösen um den eigenen unaushaltbaren Gefühlen zu entgehen. Im schlimmsten Fall kann es in Folge zu Gewalttaten dem Kind gegenüber kommen, um es zum Schweigen zu zwingen. Durch dieses elterliche Verhalten entwickelt sich eine Bindungsstörung zum Kind, sodass eine sichere Bindung nicht möglich wird. Rauwald spricht von unbewussten inneren Repräsentanzen, welche die Opferkinder in sich tragen. Das erwachsene Opferkind lebt das gewalttätige Verhalten als Wiederholung gegenüber den eigenen Kindern aus. Diesen Vorgang bezeichnet Hirsch (2011) als perpetuierendes Trauma, welches eine Nachwirkung des traumatischen Introjekts darstellt.
In anderen Worten verwendet Hirsch (2011) den Begriff des Fremden, das durch die elterlichen traumatischen Erfahrungen unbemerkt dem Kind implantiert wird. Sie machen sich als Fremdkörper oder als „transgenerationale Introjekte“ bemerkbar. Faimberg (1987) spricht von einem „tyrannischen Eindringen einer Geschichte“ in ein anderes Subjekt.