Lou Andreas-Salomé ist vielen von uns für ihre Beziehungen zu prominenten Vertretern des deutschen Geisteslebens wie Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud bekannt. Folgendes Zitat Freuds brachte mich darauf, dass sie nicht nur als Psychoanalytikerin praktizierte, sondern auch Beiträge zur psychoanalytischen Theorie leistete. Freud schrieb anlässlich ihres Todes im Februar 1937: „Die letzten 25 Lebensjahre dieser außerordentlichen Frau gehörten der Psychoanalyse an, zu der sie wertvolle wissenschaftliche Arbeiten beitrug und die sie auch praktisch ausübte.“
Ähnlich wertschätzend schrieb Freud über ihre Arbeit „Mein Dank an Freud“: „Es ist gewiss nicht oft vorgekommen, dass ich eine psa. [psychoanalytische] Arbeit bewundert habe, anstatt sie zu kritisieren. Das muss ich diesmal tun. [...] Gelänge es, was Sie mit hauchdünnen Pinselstrichen hinmalen, zur Greifbarkeit zu vergröbern, so hätte man vielleicht endgültige Einsichten in Besitz genommen.“
Im Gegensatz zu Freuds außergewöhnlich großer Wertschätzung ihrer Arbeiten fristen Lou Andreas-Salomés psychoanalytischen Beiträge - so Inge Weber und Brigitte Rempp (1990) ein Schattendasein. Ihrer Meinung nach zu Unrecht, „... zumal ihre Ideen zum Narzissmus und zur Weiblichkeit in der gegenwärtigen psychoanalytischen Literatur anklingen.“
Auch Lorrain Markotic schrieb in der American Imago 2001: „That Andreas-Salomé´s writings have received so little attention is especially regrettable in light of the many ways in which they anticipate current discussions“ (S. 813). Er meint, ihr besonderer Beitrag läge im Bereich der Theorie der Entwicklung des Selbst.
Um Ihnen die Möglichkeit zu geben, sich selbst einen Eindruck von Lou Andreas-Salomés psychoanalytischen Arbeiten machen zu können, möchte ich ihre - als bedeutsamsten Beitrag geltende - Narzissmustheorie vorstellen. In ihrem 1920 in der Imago veröffentlichten Aufsatz Narzissmus als Doppelrichtung schreibt sie, dass für sie der Narzissmus „... unser Stück Selbstliebe alle Stadien begleitend ...“ sei. (Andreas-Salomé, 1920, S. 191) Sie versteht den Narzissmus so wie Freud als Selbstliebe, die in Objektliebe übergehe und nach Bedarf auch wieder auf sich selbst zurückgezogen werden könne. Für Lou Andreas-Salomé ist der Narzissmus ein Grenzbegriff, über den sich unser Verstehen und Erkennen nicht reichen kann. Für sie ist Narzissmus gleichbedeutend mit dem Unbewussten....